Rezension

Dichter Familienroman in schnörkelloser Sprache

Martha und die Ihren -

Martha und die Ihren
von Lukas Hartmann

Bewertet mit 5 Sternen

Der neue Roman von Lukas Hartmann schildert – chronologisch erzählt - seine eigene Familiengeschichte, ausgehend von seiner Großmutter Martha, die sich mit unbändigem Willen aus bitterer Armut hochgekämpft hat.

Nach dem Tod ihres Vaters wurde Marthas Familie auf behördliches Geheiß auseinander gerissen. Alle 6 Kinder wurden als sogenannte Verdingkinder auf fremde Familien verteilt, ohne dass sie Kenntnis vom Verbleib der Geschwister erhalten hätten. Hartmann zeichnet Marthas Weg nach, der sie von einem gescheiten kleinen Mädchen zu einer harten und herrischen Frau gemacht hat, die allein in einem Altenheim stirbt. Dabei wird, jeweils in der personalen Perspektive, der erzählerische Staffelstab jeweils an das älteste Kind der Generation weitergegeben – zunächst an Marthas Sohn Toni und danach an Tonis ersten Sohn Bastian, der für den Autor selbst steht.

Stück für Stück treten die Deformierungen zutage, die das Verdingkind Martha erlitten hat und an ihren ältesten Sohn weitergibt. Beide stellen den Aufstieg über alle anderen Werte, was einerseits zu enormer Angepasstheit, Obrigkeitshörigkeit und Selbstüberforderung führt und andererseits zu einem gefühlsarmen Familienleben, unter dem vor allem Tonis Frau Lena und Marthas Enkel Bastian und Ferdi leiden. Aber auch Lenas Familie ist von Lieblosigkeit geprägt; ihr Vater steht exemplarisch für die arme Landbevölkerung der wohlhabenden Schweiz, die ums schiere Überleben kämpfen muss. Mit beeindruckender Klarsichtigkeit zeigt Hartmann, wie das übermächtige patriarchale System des Landes ungemildert  in die Familien hineinreicht, die Männer verformt und die Frauen unterdrückt.

Die Schnörkellosigkeit und Knappheit von Hartmanns Stil gefiel mir sehr – auf dichten  293 Seiten schildert er die Geschichte dreier Generationen. Mit wenigen sparsamen Strichen zeichnet er lebendige Bilder - und obwohl er so zurückgenommen schreibt, entsteht doch viel Nähe zu den Figuren. Hartmann verzichtet auf jegliche Heroisierung: Vor allem Martha, aber auch ihr Sohn Toni sind höchst fehlbare Menschen. Das Verhalten der Figuren, ohne Beschönigung benannt, macht es manchmal schwer, nicht ins Urteil zu gehen. Ihr Handeln erscheint oft kurzsichtig, hart und lieblos, aber wird nachvollziehbar  aus dem Familienhintergrund und der daraus resultierenden schädlichen Prägung. Der Roman erinnert an eine Weisheit, die allzu leicht vergessen wird: Niemand ist zu verstehen ohne die Kenntnis seiner/ihrer Geschichte.

Entsprechend erzeugt der Text, trotz der vordergründigen Sachlichkeit des Erzählstils, große emotionale Anteilnahme und oftmals sehr ambivalente Gefühle. Unweigerlich zieht man Parallelen zum eigenen Leben, zur eigenen Familiengeschichte. Gleichzeitig drängen sich Reflektionen über die Definition von Wohlergehen, Glück und Lebensleistung auf; vielleicht relativiert die/der Eine oder Andere die Einschätzung der eigenen Situation oder gewinnt eine komplexere Sicht auf Eltern oder Großeltern.

Der Roman zeigt: Armut ist nicht nur ein materielles Missgeschick, sie ist vor allem auf der psychisch-emotionalen Ebene fatal. Menschen, die in Armut aufwachsen, bekommen von allem zu wenig, was sie für den Rest ihres Lebens beeinträchtigt. Über die persönlichen und historischen Bezüge hinaus hat der Roman daher für mich auch immense Gegenwartsrelevanz: Kinderarmut muss auch in unserer Zeit unbedingt energisch bekämpft werden, denn ihre Beschädigungen tragen generationenweit.

Ein Buch mit hoher Resonanz. Große Empfehlung.