Rezension

Beklemmender Perspektivenwechsel

Krieg. Stell dir vor, er wäre hier
von Janne Teller

Bewertet mit 5 Sternen

Krieg. Stell dir vor, er wäre hier.

Die europäische Union ist auseinandergebrochen; Deutschland befindet sich im Krieg mit den Nachbarländern. Zerbombte Städte, Hunger, Verletzte, Tote, und ständige Gefahr. Da bleibt nur noch die Flucht, und mit viel Glück gelingt sie dem 14-jährigen Protagonisten und seiner Familie. Frieden gibt es in Europa nicht, und so landen sie in einem Flüchtlingscamp in Ägypten. Das Überleben ist gesichert, doch ohne Aufenthaltsgenehmigung kann der Junge nicht zur Schule gehen, kein Arabisch lernen, keine Arbeit finden. Für die Einheimischen sind die Europäer Menschen zweiter Klasse: Sie haben keine Kultur, besonders die Frauen und Mädchen benehmen sich schamlos, sie haben keine Disziplin und können nicht handfest zugreifen und arbeiten. Die Gegenwart ist bedrückend und allein die Hoffnung auf die Zukunft hält den Jungen aufrecht: Irgendwann wird der Krieg vorbei und eine Rückkehr in das alte Leben wieder möglich sein. Als nach Jahren endlich ein Ende des Krieges kommt, zeigt sich, dass diese Hoffnung trügt - alles hat sich verwandelt, das alte Deutschland existiert nicht mehr, und ein Anknüpfen an früher ist nicht möglich. Das vorige Leben mit seinen Möglichkeiten ist endgültig gestohlen und kann niemals wiederkehren.

Ein beklemmender Perspektivenwechsel: Keine Bootsflüchtlinge, die aus Afrika über das Meer fliehen und mit viel Glück in Lampedusa stranden, sondern eine deutsche Familie, die das nackte Überleben in Afrika findet. Diese Geschichte erzählt Janne Teller nicht wie üblich in der dritten oder in der ersten Person, sondern sie schreibt in der Anredeform. So wird der Leser persönlich angesprochen und mit hineingenommen in das Gedankenexperiment; er kann sich mit dem namenlosen Protagonisten identifizieren. Und auf diesem Weg kann er dann auch nachvollziehen und nachfühlen, wie es den Asylbewerbern bei uns geht. Damit dieser Umweg über das eigene Erleben gelingt, wird jede Ausgabe den länderspezifischen Gegenheiten angepasst: In der dänischen Erstausgabe ist die Ausgangssituation ein Krieg in Skandinavien, in Deutschland wird ein Auseinanderbrechen der EU zugrunde gelegt.

Janne Tellers Buch "Nichts - Was im Leben wichtig ist" erschien 2010 in Deutschland; es wurde viel diskutiert, sowohl hoch gelobt als auch verrissen und stand auf der Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Das Buch "Krieg - Stell dir vor, er wäre hier" ist 2001 als Essay für eine Lehrerzeitschrift entstanden und wurde 2004 in Dänemark als Buch herausgegeben. Im Nachwort verdeutlicht Teller ihre Intention: Ein deutliches Plädoyer für Menschenrechte - alle Menschen sind gleich geschaffen und jeder sollte den Anderen so behandeln, wie er selbst behandelt werden will.

 

Leseprobe: "Wenn durch die Bomben der größte Teil des Landes, der größte Teil der Stadt in Ruinen läge? Wenn das Haus, in dem du und deine Familie lebt, Löcher in den Wänden hätte? Wenn alle Fensterscheiben zerbrochen, das Dach weggerissen wäre? Der Winter steht bevor, die Heizung funktioniert nicht, es regnet herein. Ihr könnt euch nur im Keller aufhalten. Deine Mutter hat Bronchitis, und bald wird sie wieder eine Lungenentzündung bekommen. Dein großer Bruder hat schon früh bei einem Vorfall mit einer Mine drei Finger der linken Hand verloren und unterstützt gegen den Willen deiner Eltern die Milizia. Deine kleine Schwester wurde von Granatsplittern am Kopf verletzt, sie liegt in einem Krankenhaus, dem es an allem fehlt. Deine Großeltern starben, als eine Bombe ihr Pflegeheim traf.

Du bist noch unversehrt, aber du hast Angst. Morgens, mittags, abends, nachts. Jedes Mal, wenn in der Ferne die Raketen abgefeuert werden, zuckst du zusammen, jedes Mal, wenn du am Horizont Licht aufscheinen siehst und du nicht weißt, ob die Rakete dieses Mal in deine Richtung fliegt. Jedes Mal, wenn es irgendwo kracht, zuckst du zusammen. Wie viele deiner Freunde wurden dieses Mal getroffen?"