Rezension

Berührendes und tiefgründiges Buch

Bienenjunge - Heidi Lehmann

Bienenjunge
von Heidi Lehmann

Bewertet mit 5 Sternen

„...Regeln waren wichtig für Cosmas, aber er empfand es als dringlicher, im jeweiligen Moment zu schauen, was genau der Junge benötigte...“

 

Kai ist mit seinem 6jährigen Sohn Cosmas am Strand der Elbe. Der Junge beschäftigt sich im Sand. Schnell wird mir als Leser klar, dass Cosmas ein besonderes Kind ist.

Die Autorin hat einen einfühlsamen Roman über das Leben mit einem autistischen Kind geschrieben. Die Geschichte wird aus der Sicht des Vaters erzählt. Der ist Lehrer und weiß, dass Cosmas autistische Züge zeigt, auch wenn die Diagnosestellung schon mehr als ein Jahr auf sich warten lässt.

Der Schriftstil lässt sich angenehm lesen. In jeder Zeile wird klar, wie sehr Kai seinen Junge liebt und wie viel Mühe er sich gibt, dass es ihm gut geht.

 

„...Cosmas war Cosmas und er würde niemals jemand anders sein. Und er war genau richtig. Für Kai jedenfalls...“

 

Was in den vergangenen sechs Jahren passiert ist, bleibt weitestgehend im Dunkeln. Eines aber wird deutlich. Jorinde, Kais Frau und Cosmas Mutter, ist mit der Situation überfordert. Sie kann das Kind nicht so annehmen, wie es ist, und glaubt, es durch Erziehung zu einem normalen Kind zu machen, wobei normal immer ein relativer Begriff ist. Das stellt Kai vor zusätzliche Anforderungen.

 

„...Jorinde war wie Glas, einerseits hart und glatt, andererseits durchscheinend und zerbrechlich. Und Kai würde sich an ihr schneiden, immer und immer wieder...“

 

Kai schreibt in den Abendstunden ein Buch. Das ist für ihn eine Art Flucht aus der Realität und schenkt ihm eine gewisse Freiheit. Daraus schöpft er auch die Kraft, Cosmas alles zu geben, was der braucht, und die zerbrechliche Liebe zu seiner Frau nicht infrage zu stellen. Das heißt nicht, dass er alles richtig macht. Aber wer macht das schon in seinem Leben.

Cosmas spricht nicht viel. Doch an einigen Stellen wird deutlich, dass der Junge zu Empfindungen fähig ist, die wir nicht nachvollziehen können. So gibt es Menschen, die er Denkenlampe nennt. Seinem Vater erklärt er, dass diese leuchten. Auch die Depression der Mutter zeigt sich für ihn in bildhaften Farben.

Auf einer Vernissage lernt Kai die Künstlerin Lilith kennen. Ihre Lebensfreude beeindruckt ihn. Trotzdem setzt er seinem Handeln Grenzen, auch wenn er in Gedanken von mehr Nähe träumt.

Als Kai seinen Freund Peter besucht, beobachtet Cosmas die Bienen an dessen Bienenstöcken. Hier zeigt sich sein feines Empfinden für andere Lebewesen. Erstaunlich, wie er ihr Tun interpretiert. Daraufhin beschließt Kai, auf dem Balkon selbst Bienen zu halten. Die Beobachtung der Tiere lässt Cosmas zur Ruhe kommen. Was ihn sonst schnell aufregt, blendet er dabei völlig aus. Kais Gedanken zeigen, wie tief er sich mit der Problematik beschäftigt hat:

 

„...Vielleicht sollten wir versuchen, uns ihm anzupassen, anstatt ihn der Welt...“

 

Als Cosmas eingeschult wird und die Integration in der Schule nicht funktioniert, eskaliert auch die familiäre Situation. Jorinde kann ihr Verhalten nicht mehr steuern. Sie lebt zwischen Lethargie und heftigen Ausbrüchen, lehnt aber jede Hilfe ab.

Das offene Ende hat Für und Wider. Einerseits ermöglicht es mir als Leser, die Geschichte weiterzuspinnen, andererseits verlangen insbesondere Jorindes Aussetzer eine schnelle und konsequente Lösung.

Spannend wäre es sicher, das Geschehen aus Jorindes Sicht kennenzulernen. Vielleicht würde ich dann feststellen, dass ich sie falsch einschätze.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Kai ist hin- und hergerissen zwischen seinem Anspruch, das Beste für seinen Sohn zu wollen, den Forderungen der Ehefrau, die Zeit für sich beansprucht und doch seine Nähe scheinbar nicht mehr ertragen kann und fehlenden Hilfsangeboten der Gesellschaft.