Rezension

Boxenstopp

Boxenstopp - Christiane Neudecker

Boxenstopp
von Christiane Neudecker

Bewertet mit 4.5 Sternen

Um es gleich vorweg zu schicken: Ich bin alles andere als ein Freund der Formel Eins. Angefangen von dem unglaublichen Lärm über die Umweltaspekte bis zu dem scheußlichen Machismus finde ich eigentlich alles ziemlich abstoßend. Dass mich Christiane Neudecker mit ihrem Roman, der geanu in diesem Milieu spielt trotzdem absolut gefesselt hat, liegt daran, dass sie den Rennsport als Kulisse für ein deutlich ernsteres Thema gewählt hat. Es geht um Machtmissbrauch, aber auch die Ambivalenz von Macht - Abstoßung-Anziehung, um Sexismus, Medienzirkus und die Selbstversklavung zugunsten von Karriere und Anerkennung.

Anne ist eine bekannte und beliebte Fernsehmoderatorin als sie den lukrativen Auftrag für die mediale Begleitung der Markteinführung eines neuen Automodells der mächtigen Schneyder-Motors erhält. Präsentieren, leiten der Workshops, Galadinners und das alles im schönen portugiesischen Estoril. Doch was so verlockend klang entwickelt sich bald zu einem Alptraum: Massen an Händlern werden durch diesen gigantischen PR-Zirkus hindurchgeschleust und mit teils zweifelhaften Methoden geködert, die Mitarbeiter unterstehen der absoluten Macht von Schneyder-Motors-Chef Kaysert und seiner Führungsriege und unterwerfen sich dieser auch bereitwillig. Wer aufmuckt fliegt, Kaysert herrscht wie ein kleiner Sonnenkönig über sein Imperium. Als er Anne eindeutige sexuelle Avancen macht, lehnt diese rigoros ab. Eine Reaktion, die Kaysert nicht nur nicht gewohnt scheint, sondern die dieser auch nicht ungesühnt lassen möchte.

Anne erzählt rückblickend. Sie ist noch einmal nach Estoril zurückgekehrt. Als Opfer einer schmutzigen Medienkampagne steht sie vor den Trümmern ihrer Karriere und ihres Privatlebens, wird ihr ein Neuanfang gelingen? Klug, raffiniert und kunstvoll verschränkt und verknüpft die Autorin die verschiedenen Zeitebenen. Sie wechselt gekonnt von der psychologischen Innensicht ihrer aus der Bahn geworfenen Ich-Erzählerin zur äußeren Ebene des Megaevents genauso wie in das später verlassen daliegende Estoril und das Lissabon jenseits der Touristenzeit. Sie schildert dabei so sinnlich und atmosphärisch, dass sowohl die Beschreibung dieses wunderbaren Fleckchens Erde als auch das ganze Geschehen rund um Werbeevent und Autorennen gleichermaßen spannend fesseln. Außerdem ist das Thema des Industriemagnaten, der seine Macht ungeniert ausnutzt, der Mitarbeiter, die sich dieser Macht unterwerfen und der Maschinerie, die alles im Sinne einer Gewinnmaximierung unterstützt, ohne dabei Fragen der Moral oder Fairness auch nur ansatzweise zu berücksichtigen, ein sehr aktuelles, aber in der Literatur kaum vorkommendes. Für mich eine echte Entdeckung!