Rezension

Bruchkante aus der Vergangenheit

Whiteout - Anne von Canal

Whiteout
von Anne von Canal

Bewertet mit 5 Sternen

Hanna hat sich ihren Traum erfüllt und ist Leiterin einer Expedition in der Antarktis. Monatelang hat sie sich mit ihrem Team darauf vorbereitet. Aus 300 Meter Tiefe wollen sie das Eis fördern – 300 Meter Geschichte und Erinnerungen.

Mit dem verklärten Blick eines Festländers, der bequem auf dem Sofa sitzt, genieße ich die traumhafte Kulisse der unendlichen, sonnenbeschienen Eisfläche, auf der die Schneekristalle funkeln, hülle mich in eine Decke, wenn der Sturm wütet und betrachte fasziniert Whiteouts und Halos.

In dieser entlegenen Welt erreicht Hanna die Nachricht ihres Bruders vom Tod ihrer Jugendfreundin. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit sie das letzte Mal Kontakt zu ihr hatte. Die verdrängten Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, an das plötzliche Verschwinden, an unbeantwortete Fragen holen sie ein und ihre Gefühle geraten außer Kontrolle.

Die Geschichte hat mich schon mit den ersten Seiten erobert. Der Rahmen ist das Camp. Die Expeditionsteilnehmer sind interessante Charaktere. Die Schwierigkeiten, in dieser lebensunwirtlichen Welt Bohrungen im Eis durchzuführen und auf Glück hoffend, dass die Expedition erfolgreich sein wird, sind realistisch beschrieben.

Der Kern dieser Geschichte ist das Übrigbleiben aus einer auseinander gebrochenen Freundschaft. Zehn Jahre waren sie die besten Freundinnen, planten eine gemeinsame Zukunft. Plötzlich war Fido verschwunden, ohne ein Wort des Abschieds. 

Hannas Gedanken führen in die Vergangenheit, beginnen in der Zeit, als sie mit ihrem Bruder „Scott und Amundsen“ gespielt hat und eines Tages Fido dazu gekommen ist. Vom ersten Tag an waren sie unzertrennlich.

Den Schreibstil finde ich ausdrucksstark. Die Sätze sind gekonnt in der Balance zwischen kurz und lang und bezeichnen treffsicher jeden Aspekt. In Hannas Zwiesprache mit Fido spricht sie sie direkt an. Dadurch habe ich mich den beiden sehr nah gefühlt. Wenn auf Anführungszeichen verzichtet wird, finde ich das Lesen meistens anstrengend. In diesem Buch fehlen sie zwar auch, doch das Einrücken macht hier die wörtliche Rede erkennbar und sie war dadurch flüssig zu lesen.

Als Leser bin ich durch Erinnerungen gereist, habe Charaktere reifen sehen, Ereignisse und Entwicklungen betrachtet. Ich habe mit Hanna nach Erklärungen gesucht und die Antworten ganz woanders gefunden. So wie Stiller von Max Frisch von sich sagt, er sei nicht Stiller, können wir von Frido vermuten, dass sie die gleiche Aussage treffen würde.

Wenn jemand verschwindet, plötzlich und ohne sich zu verabschieden ist derjenige, der zurückbleibt,  in seinen Grundfesten erschüttert. Wenn er keine Chance auf Erklärung bekommt muss er einen Weg finden, damit weiter zu leben. Diesen Prozess hat Anne von Canal meisterhaft beschrieben.

Ich bin von dem Buch von Anne von Canal begeistert. Sie hat ein schmerzhaftes Thema virtuos herausgearbeitet.