Rezension

Wenn nach einem Verlust nur die Erinnerung bleibt

Whiteout - Anne von Canal

Whiteout
von Anne von Canal

Bewertet mit 3 Sternen

"...Mich sie vermissen zu lassen, obgleich sie noch da ist. Denn ich weiß ja, sie kommt und geht, wie es ihr gefällt. Leuchtet eine Weile und verschwindet leise, ohne sich zu verabschieden...." (S.185)

Hanna ist Leiterin einer wissenschaftlichen Forschungsgruppe in der Antarktis. Über Eisbohrungen wollen sie und ihr Team Erkenntnisse über das Klima der Vergangenheit erhalten. Als Hanna eine E-Mail ihres Bruders Jan erhält, die vom Tod ihrer Freundin aus Kindheit und Jugend berichtet, beginnt ihre strukturierte planmäßige Welt ins Wanken zu geraten. Zum ersten Mal nach langer Zeit muss sie wieder an Fido denken, die vor 20 Jahren einfach so ohne Abschied aus ihrem Leben verschwunden ist.

Die Geschichte von Hanna, Jan und Fido lebt in den Erinnerungen Hannas wieder auf. Als ob Hanna die Erlebnisse Fido wieder erzählen würde, spricht sie diese immer mit Du an. So erfahren wir von Fidos strengem Elternhaus und Fidos Auflehnung dagegen als Jugendliche, von ihren Spielen als Polarforscher Amundsen, Scott und Wilson, von Fidos außergewöhnlicher Sammelleidenschaft, ihren Plänen für die Zukunft nach dem gemeinsamen Urlaub nach Frankreich, und Fidos Verschwinden danach. Diese sehr interessante direkte Anrede lässt uns aber nur an Hannas Gedanken teilhaben, und wir müssen als Leser genauso wie Hanna auf eine Erklärung für Fidos wortlosen Abschied hoffen.

Ob es am vielen Eis und dem Sturm liegt, dass ich mit den meisten Personen in diesem Buch nicht warm geworden bin? Die Expeditionsteilnehmer nehmen für mich nur Statistenrolle ein, die männlichen Figuren kann ich oft nicht auseinanderhalten. Die Personen aus Hannas Vergangenheit sind mir näher, vor allem Nini, die Großmutter, vielleicht die eigene Sehnsucht nach meiner Oma.

Hanna selbst scheint mir ein Mensch zu sein, den unerwartete Ereignisse aus der Bahn werfen, sie möchte diejenige sein, die entscheidet, so war sie schon als Kind und ist es immer noch. In der Kulisse der unwirtlichen Forschungszone im Eis, den Elementen und den Tücken der Technik ausgesetzt, sind Planänderungen nahezu unabwendbar. Genauso wenig, wie sie einen Eissturm ihrem Willen unterwerfen kann, hat sich auch Fido nicht eine Abhängigkeit drängen lassen und den Moment des Erwachsenwerdens genutzt um sich aus einer vereinnahmenden Beziehung zu lösen.

Ich finde den Titel Whiteout äußerst gut gewählt, beschreibt dieser doch einen Begriff aus der Meteorologie, ein Phänomen, das in Polargebieten auftritt und bei einem Wechselspiel von diffusen Sonnenlicht und Eis- und Schneedecke das Verschwinden des Horizonts und ein Gefühl der Desorientierung und eine Beeinträchtigung des Gleichgewichtssinnes zur Folge hat (aus wikipedia)

Auch sonst schreibt die Autorin sehr bildhaft, manchmal fast ausufernd, machen Beschreibungen rutschen mir zu sehr ins esoterische ab, sollen mir aber als Hannas Gedankengänge recht sein.

Hanna notiert im Logbuch: „Die Vergangenheit sagt uns, wer wir sind, ohne sie verlieren wir unsere Identität."
Eigentlich ein Kalenderspruch, wenn das Zitat nicht von Stephen Hawking stammen wäre, würde ich ihm auch keine besondere Bedeutung zukommen lassen.

Egal wie viele Meter man ins Eis bohren muss, wie viele Schichten man abkratzen muss, die Vergangenheit formt immer, was wir sind, was wir denken und fühlen. Wie wir allerdings mit der Vergangenheit umgehen, wie sehr wir in ihr verfangen sind, unterliegt immer unserer Entscheidung.

Was uns bleibt, wenn ein Mensch wortlos geht, ist die Erinnerung, die Sehnsucht und das Gefühl der Leere, wenn Fragen offen bleiben. Manchmal hilft es die Fragen neu oder jemand anderem zu stellen, vielleicht auch sich selbst.