Rezension

Coming of Age in Brooklyn - ein atmosphärisch großartiger Roman

Visitation Street - Ivy Pochoda

Visitation Street
von Ivy Pochoda

Bewertet mit 5 Sternen

June und Valerie sind 15, an einem Punkt ihrer Kindheit, an dem Mädchen sich bereits erwachsen fühlen, sich in der Sommerhitze aber noch gemeinsam mit jüngeren Kindern im Wassernebel eines illegal geöffneten Hydranten abkühlen. Auf June Marinos wachsende Kurven stehen die Jungen aus Red Hook/Brooklyn, nur ihr Vater hat andere Vorstellungen, wer ein für June und ihre ältere Schwester passender Umgang ist. In einer heißen Nacht schleppen die beiden ein rosa Schlauchboot runter ans Wasser, um an einen kleinen Strand der Upper Bay in Sichtweite von Governors Island zu paddeln. Nur mit den Händen, ohne Paddel bewegen sie sich an einer vielbefahrenen Schiffsroute mit gefährlichen Strömungen. Am Ende wird Val unterkühlt und zerschunden kurz vor dem Ertrinken gefunden, von June gibt es keine Spur. Cree, der Junge, der die Mädels beobachtet, ist nachts unterwegs, um sich auf dem verrottenden Boot seines Vaters von dessen ungelebten Träumen zu verabschieden. Cree wohnt mit seiner Mutter in den „Projects“. Er war früher mit Vals Schwester Rita zusammen, bis deren Vater die Beziehung beendete; denn Cree ist schwarz und wohnt in der falschen Gegend. Lange scheint die Polizei nicht mehr zu tun, als Cree zu vernehmen. Gerüchte schießen ins Kraut, June wäre einfach abgehauen und lebte irgendwo auf der Straße.

Die zurückgelassene Valerie ähnelt ohne ihre Hälfte June inzwischen einem fahlen Stück Treibgut, das sich mit magischem Denken notdürftig durchs Leben schleppt. Beinahe ein Dutzend Personen sind von Junes Verschwinden betroffen - Vals einzelgängerischer Musiklehrer Jonathan Sprouse, Fadi, der in anderen Zeiten vielleicht für sein Stadtviertel in die Politik gegangen wäre, und der Sprayer Ren, dem ein größeres Stück Lebenslauf fehlt. Junes Verschwinden wirkt auf die Beteiligten wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und Kreise zieht. Um ihre Handlungsfäden am Ende zusammenführen zu können, muss Ivy Pochada ihre Figuren weit in deren Vergangenheit zurückblicken lassen. Zum Beispiel Cree mit dem Schicksal seines Vater konfrontieren und mit seiner Mutter Gloria, von der er sich beim Erwachsenenwerden kaum lösen kann, weil nur hier ihre Toten mit ihr sprechen. Der richtige Zeitpunkt um zu gehen könnte eine mögliche Moral der Geschichte sein.

Ein Mädchen verschwindet an einer viel befahrenen Schifffahrtsroute; ihre Freundin, schwer verletzt, erinnert sich nicht, was geschah. Die Lösung des Rätsels könnte sich im dicht gesponnenen Beziehungs-Netz ihres Stadtviertels verbergen. Das Setting lässt einen Kriminalroman vermuten, doch Ivy Pochadas Porträt eines New Yorker Stadtteils hat als Genremix aus Großstadtroman und Coming-of-Age-Geschichte sehr viel mehr zu bieten. Der unnachahmlich getroffene Sound New Yorks, bildhaftes Sehen aus der Vogelperspektive auf die Stadt und konzentrierte Blicke auf die „Pieces“, die ein deutlich talentierter Sprayer in Sichtweite von Fadis kleinem Lebensmittelladen „Hafiz Superette“ hinterlässt, weiten den Blick auf ein ganzes Stadtviertel, in dem für Leute aus den „Houses“ bisher selten Jobs vergeben wurden.