Rezension

Das Gepäck, das wir mit uns schleppen

Die Bagage - Monika Helfer

Die Bagage
von Monika Helfer

Maria ist wunderschön. Ihr Mann wird in den Ersten Weltkrieg eingezogen. Es ist kein Geld im Haus, Maria hat Kinder zu versorgen. Der Bürgermeister des Bregenzerwälder Dorfes bietet Hilfe an. Er ist aber nicht der einzige, der ein Auge auf Maria geworfen hat. Als Maria mit dem vierten Kind schwanger wird, werden die Dörfler nicht müde, sich darüber das Maul zu zerreissen. Das Leben auf dem Lande, wo jeder jeden kennt, wo jeder weiss, was der andere gerade denkt oder tut. Und weiss man es nicht, so erfindet man etwas. So werden aus Familien Bagagen und aus Bagagen Familien.

Das abschätzige Wort „Bagage“ für eine Familie, so will mir scheinen, wird heute kaum mehr verwendet. Allerdings ist es mir aus der Kindheit wohlbekannt, begleitet von einem Geruch nach ungewaschener Kleidung und schlecht belüfteten Räumen sowie Bildern von schattigen Winkeln, Münzautomaten für Strom, laufenden Kindernasen. Bagage bedeutet aber auch Gepäck und erinnert an schlecht verschnürte Kartons und überquellende Koffer. Im Roman „Die Bagage“ von Monika Helfer steht das Wort auch dafür, was wir als (Familien-)Geschichte mit uns schleppen, oft genug, ohne uns darüber im klaren zu sein.

Monika Helfers Bagage ist zwar arm und lebt an einem Schattenplatz, aber die Familie, um die es hier geht, ist über die Massen reinlich, reinlicher als alle anderen im Bregenzerwälder Dorf, dem ländlich-abgelegenen Schauplatz des Romans. Helfer erzählt aus der Ich-Perspektive, schliesslich trägt der Roman autobiographische Züge. Hauptsächlich erzählt wird die Geschichte der Grossmutter Maria. Sie lebt mit ihrem Mann Josef und den Kindern ausserhalb des Dorfes. Ein ausnehmend schönes Paar, allerdings auch rätselhaft, fremdartig und gefürchtet. Das Jahr 1914 bringt den Krieg und den Stellungsbefehl für Josef. Die Familie ist auf Almosen und das Wohlwollen des Bürgermeisters angewiesen. Als der Krieg vorbei ist, ist alles anders. Maria hat ein Mädchen zur Welt gebracht. Im Dorf wird geredet: über das Kind und dass Josef wohl kaum als Vater in Frage komme, obwohl er zweimal auf Fronturlaub zu Hause war. Zwei Männer gingen bei Maria ein und aus. Ein Deutscher und der Bürgermeister. In Josef ist der Zweifel gesät. Er wird dieses Kriegskind seiner Lebtag nie anschauen.

Das sind so Dinge, über die in einer Familie lieber geschwiegen, als geredet wird. Doch soviel auch verheimlicht wird: Längst vergangene Ereignisse wirken nach. Monika Helfer setzt ihre Familiengeschichte aus Bruchstücken zusammen; aus dem, was sie aus ihrer betagten Tante Kathe herausgekitzelt hat, aus ihren eigenen Bildern, Empfindungen, Erlebnissen mit der Verwandtschaft. Sie erfindet Dialoge, die vielleicht so, vielleicht aber auch anders stattgefunden haben. Sie greift auf die Wortwahl ihrer Tante zurück, wohlwissend, dass in der Erinnerung manche Geschichten grösser werden, andere kleiner, als ihnen zukommt. Und so werden Marias Kinder zu tapferen Helden: Hermann, der besser mit Tieren kann als mit Menschen, Lorenz, vor dem sich selbst der Bürgermeister in Acht nehmen muss, Katharina, die im Notfall schon mal lügt, dass sich die Balken biegen. Schliesslich geht es ums Überleben. 

Helfers Erzählstil ist unprätentiös. Sie streift durch die Jahrzehnte, verfolgt mal diesen Lebensstrang, mal jenen. Und sie stellt sich die Frage: „Wann und wo endet die Bagage? Gehöre ich noch dazu? Gehören meine Kinder noch dazu?“

Titel: Die Bagage, gebunden, 159 Seiten

Autorin: Monika Helfer

Verlag: Hanser, 2020

ISBN 978-3-446-265-622, Fr. 32.00/Euro 24.00

Für wen: Stammen Sie aus einer Bagage? Dann ist das sicherlich auch Ihre Geschichte.