Rezension

Das Leben der Unschuldigen

Die Mäusekönigin -

Die Mäusekönigin
von Jay Kay

Bewertet mit 5 Sternen

„...Sie sah mich, hob mich auf und steckte mich unter ihre Bluse. Niemand sollte mich entdecken und keiner durfte mir etwas zuleide tun. Das war ihr Credo...“

Das sind die Gedanken der Maus Bo. Die war beim Umzug ihrer Mutter in das neue Nest auf der
Strecke geblieben. Das Mädchen Nhi hatte sie gefunden und sich ihrer angenommen.
Der Autor hat eine zauberhafte Geschichte geschrieben. Der Ausdruck trifft es allerdings nicht ganz. Es geht auch um Verletzung und Gier. Die Maus Bo erzählt, was sie zusammen mit Nhi erlebt.
Das Buch besticht durch eine ausgefeilte Sprache. Die macht zum einen das Geschehen erlebbar, gibt ihm aber auch eine gewisse Unverwechselbarkeit.
Nhi lebt in Vietnam. Sie gehört zu den Opfern des Krieges. Sie wurde als Folge des Einsatzes von Agent Orange ohne Beine geboren. In dem Haus der Güte wird sie auf das Leben vorbereitet. Sie lernt, sich mit Krücken zu bewegen. Sie ist intelligent und hat eine besondere Gabe. Ihre Erzieherin gibt ihr manchen Ratschlag mit.

„...Was man tun darf und was nicht, bestimmt jetzt unsere Regierung und damit das Volk. Aber nie mehr wird eine anderes Volk über unser Schicksal bestimmen. Wohin ein jeder geht, um sein Leben zu gestalten, und womit er seinen Unterhalt verdient, hat man selbst in der Hand...“

Bald wird Nhi merken, dass dies doch nicht ganz so einfach ist, denn mit 18 Jahren muss sie die geschützte Umgebung verlassen, um zusammen mit dem Jungen Thang, der ohne Augen geboren wurde, zu ihrer einzigen Verwandten zu ziehen. Diesen Abschnitt nennt der Autor das Haus der  Sehnsucht.
Sehr bildlich beschreibt der Autor das Leben in dem Dorf. Eingestreute Briefe zeugen davon, dass die Tante gar nicht begeistert ist, die jungen Menschen aufnehmen zu müssen. Im Dorf hat sich ein lukrativer Wirtschaftszweig etabliert, deren Produkte vor allem bei den chinesischen Nachbarn gefragt sein. Heimlich geht Nhi ihre eigenen Wege. Eine alte ehemals französische Villa ist ihr Zufluchtsort.

„...“Aber so ist es nun mal“, schloss Hien. „Willst du Erfolg haben, musst du etwas wagen.“ „Das will ich mir merken“, sagte Nhi und für ihre Tante klang es bestimmt pflichtbewusst. Aber für mich klang es irgendwie anders...“

Thang kümmert sich um Opa Thuc. Er lebt von seinen Erinnerungen an Onkel Ho. Gemeint ist Ho Chi Minh. Opa Thuc gehört das Land rings um das Dorf. Das gefällt nicht jeden, denn man möchte gern expantieren.
Sehr schön beschrieben wird, wie sich die Natur die alte Villa zurückerobert hat. Gleichzeitig wird die Schönheit der Natur in bildhafter Sprache wiedergegeben.

„...Als wir oben ankamen, war die Sonne aufgegangen, aber trotzdem hielt sich der Morgendunst hartnäckig im Tal. Auch in den Nachbartälern und überhaupt in allen hohen Wipfeln bildete er weiße Wolken wie seidene Nester von riesigen Spinnen...“

Während der erste Teil eher ruhig verläuft, wird es im zweiten Abschnitt spannend. Nhi braucht viel Phantasie und Energie, um ihren eigenen Weg gehen zu können. Thang nimmt sie auf diesen Weg mit. Die Maus Bo ist ihr dabei eine Hilfe.
Dass es Probleme gibt, weiß ich als Leser schon, als sie sich so noch gar nicht abzeichnen. Der Autor hat nämlich als besonderes Stilmittel Polizeiberichte in das Geschehen eingeflochten. Sie sind fett gedruckt und von kleinerer Schriftart. Gleiches gilt für kurze Gesetzestexte.
Kursiv wiedergegeben wird Nhis Korrespondenz mit ihrer ehemaligen Erzieherin. Dort stellt sie genau die richtigen Fragen.

„...Tante Hien hat uns zwar eine Beschäftigung gegeben, aber ist das wirklich als Chance gemeint, oder ist es nur eine Chance für sie selbst, um das Geschäft anzukurbeln…?...“

Zum letzten Kapitel, dem Haus der Demut, möchte ich hier nichts schreiben. Das darf der Leser selbst auf sich wirken lassen.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Nhis Gedanken haben oft eine philosophische Tiefe, die ihr kaum jemand zutraut. Die meisten sehen nur ihre Behinderung. Sie aber will leben. Hier darf sie nochmals zu Wort kommen.

„...Ist es falsch, wenn ich denke, dass die Welt uns etwas schuldet? Sie hat uns verletzt, da waren wir noch nicht einmal geboren. Wer nimmt diejenigen in Verantwortung, die uns das zugefügt haben?...“

Gekonnt wird in das Geschehen eine Spur Magie eingefügt, die am Ende – und erst dann – der Geschichte einen leicht märchenhaften Charakter gibt.