Rezension

Dem traurigen Schicksal mit hemmungsloser Liebe trotzen

Du wusstest es doch - Josepha Mendels

Du wusstest es doch
von Josepha Mendels

Bewertet mit 4 Sternen

Auf wundervoll poetische Weise erzählt die aus jüdisch-orthodoxer Familie stammende niederländische Schriftstellerin Josepha Mendels (1902-1995) in ihrem bereits 1948 veröffentlichten Roman „Du wusstest es doch“ von der „Haltlosigkeit“ und Verlorenheit jüdischer Exilanten. Es ist die lebensbejahende Ausdruckskraft dieses im August erstmals auf Deutsch im Wagenbach-Verlag erschienenen, stark autobiographisch geprägten Werks, in dem Mendels die unüberwindbare Kluft zwischen dem Wissen – oft schlechten Gewissen der Entkommenen – um das aussichtslose, am Ende tödliche Schicksal daheimgebliebener Angehöriger und dem Zwang, selbst überleben zu wollen, schildert.

Mendels' Roman ist die Geschichte des 30-jährigen jüdischen Dichters Frans, der 1943 aus dem von den Nazis besetzten Holland nach London geflohen ist, seine Frau mit zwei kleinen Kindern aber zurücklassen musste. Um im Exil von dieser psychischen Belastung nicht erdrückt zu werden, verdrängt er ganz bewusst die Erinnerung an die Familie und seine Mutter „in einen geheimen Winkel seines Herzens“, um sich mit dem verbleibenden Freiraum dem Leben weit öffnen zu können. Im Hyde Park trifft er auf die ebenfalls geflohene Henriette, in deren Person und Charakter unschwer die für die damalige Zeit ungemein selbstbewusste Feministin Josepha Mendels erkennbar ist. Beide wohnen fortan in einem alten Appartement und leben eine freie und intensive, wenn auch zeitlich befristete Liebe aus, deren Ende für beide absehbar ist. Denn sobald der Krieg beendet und Holland befreit ist, wird Frans zu seiner Familie zurückkehren.

In völlig unpathetischer Sprache, voller jugendlicher Unbeschwertheit und überaus humorvoll – der Übersetzerin Marlene Müller-Haas sei Dank – lässt uns die Autorin dieses gemeinsame Jahr des Paares miterleben. Irgendwie erinnert diese Geschichte an Tucholskys „Schloss Gripsholm“. Doch was so unbeschwert wirkt, ist nur das oberflächlich Sichtbare. Jeder Mann hat in sich etwas Weibliches und jede Frau etwas Männliches, weiß Frans. Diese männliche Kraft, die ihm selbst fehlt, den verlorenen Halt in seinem Leben findet er in seinem emanzipierten „Henrietje“.

Bei der Lektüre dieses nur 190 Seiten dünnen Romans freuen wir uns mit den Liebenden, schmunzeln über lustige Szenen – und laufen Gefahr, die wirkliche Situation der Exilanten zu vergessen. Dass dies nicht geschieht, dafür sorgt die Autorin durch kapitelweise Einschübe, in der sie uns wie durch ein Fernglas in die Zukunft schauen lässt. Wir lesen über das tödliche Schicksal von Henriettes Schwester und deren Familie sowie über den Tod von Frans' Mutter im KZ.

Sobald Holland wieder frei ist, kehrt Frans zu seiner Familie zurück. Doch er muss erkennen, dass er dort nicht mehr hingehört: Im Gegensatz zur Vorkriegszeit wird er nicht mehr als Holländer, sondern als Jude gesehen, die in damals weit verbreiteter – so das erschütternde „Nachkriegs-Erbe“ der Nazis – an ihrem Schicksal doch selbst schuld seien. Bildlich zeigt Mendels diese „Schuld“ auch beim Auszug Henriettes aus ihrem möblierten Londoner Appartement: Dem Sessel fehlte schon immer eine Lehne und die Waschschüssel hatte einen Riss, beides Sinnbilder des beschädigten Exilanten-Daseins. Jetzt soll Henriette dem Vermieter beides ersetzen. Anders als erwartet, ist das Leben nach überstandenem Exil für die Heimkehrer bedrückender als ihr Leben vor dem Krieg: Die Nazis sind tot, aber der Antisemitismus lebt.