Rezension

"Der letzte Schultag" von Göran Schattauer

Der letzte Schultag - Göran Schattauer

Der letzte Schultag
von Göran Schattauer

Bewertet mit 4 Sternen

INHALT
Am 11. März 2009 verübte der 17-jährige Tim K. in der schwäbischen Kleinstadt Winnenden ein unfassbares Massaker: Er tötete 15 Menschen und anschließend sich selbst. Ein Jahr nach dem Amoklauf legt der mehrfach preisgekrönte Focus-Journalist Göran Schattauer die erste umfassende Dokumentation des Verbrechens vor. Der Autor begab sich auf Spurensuche im familiären Umfeld des Täters, befragte Fahnder, Rettungskräfte, Tatzeugen und Juristen, sprach mit den Familien der Opfer und wertete Ermittlungsakten aus. Anhand vieler bislang unbekannter Fakten und Hintergründe rekonstruiert er das Leben und Töten des Tim K. – und findet dabei mögliche Antworten auf die entscheidende Frage: Wie konnte das geschehen?
[ Quelle: amazon ]

MEINE MEINUNG
Es gibt Tage, die werden einem auf ewig in Erinnerung bleiben. Die meisten wissen, wo sie am 11.September 2001 waren und was sie getan haben. Und ich werde nie den 11.März 2009 vergessen, als ein 17-Jähriger keine 100 km entfernt von meiner Heimatstadt in seiner Schule Amok lief und am Ende des Tages 16 Menschen tot waren. Mein Vater war zu dieser Zeit Leiter einer Polizeiaußenstelle und Mitglied einer Sondereinheit, die für solche besondere Situationen ausgebildet war. Den ganzen Tag saß ich mit meiner Mutter vor dem Fernseher, NTV lief und wir warteten darauf, dass mein Vater aus Winnenden zurück kam, aus einem Ort, der nach dem 11.März nie mehr so sein würde wie zuvor.
Nach diesem Tag habe ich angefangen, mich mit dem Thema Amoklauf näher auseinander zu setzen, um vielleicht irgendwo die Antwort auf die Frage zu finden, was einen jungen Menschen zu so einer Tat treibt. Tim K. ist ja nicht ja nicht der Erste, der mit einer Waffe in seine Schule ging und Menschen dabei zu Schaden kamen. Sieben Jahre vor ihm mussten schon Menschen ihr Leben lassen, als Robert S. in Erfurt an seiner ehemaligen Schule Amok lief. Die wohl bekannteste Tat haben Dylan Klebold und Eric Harris im Jahr 1999 begangen, als sie an der Columbine High School das Feuer eröffneten.
Wer sich mit diesem Thema beschäftigt, stößt über kurz oder lang auf dieses Buch, in welchem Gören Schattauer versucht, den Amoklauf nachzuempfinden. Vielleicht hat der eine oder andere meine Rezension zu Kurzschluß gelesen, welches den Amoklauf von Erfurt zum Gegenstand hatte. Und obwohl beide Bücher ähnliche Themen behandeln, unterscheiden sie sich grundlegend. Wo Jens Becker sich mehr mit den Opfern und der Zeit danach beschäftigt hat, ist Göran Schattauer ganz anders an die Sache herangegangen. Schattauer wählte den chronologischen Aufbau und hat sein Buch dementsprechend eingeteilt.
Das Buch beschäftigt sich zu Anfang mit dem Täter Tim selbst. Dabei wurde sein komplettes Leben beleuchtet, von Geburt an. Dabei hatte ich echt zwiegespaltene Gefühle, denn natürlich interessiert man sich für den jungen Mann, schon allein wegen der Frage, wie Tim zum Mörder werden konnte. Und obwohl er mit seiner Tat das Interesse der Öffentlichkeit geweckt hatte, finde ich doch fraglich, ob die Allgemeinheit wissen muss, in welchem Alter er beschnitten wurde. Hinzu kommt, dass natürlich auch Tims Familie komplett durchleuchtet wurde. Dadurch wurde einem nochmal bewusst, dass sich auch das Leben der Familie grundlegend geändert hat und dass auch die Eltern und Tims Schwester für immer mit dieser Tat leben müssen. Da werden ganze Chatverläufe von Tims kleiner Schwester abgedruckt, welche diese wahrscheinlich in dem Bewusstsein geschrieben hat, dass es sich um eine Privatsache handelt.
Schon in diesem Abschnitt werden Umstände sichtbar, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie ein Grund waren, warum Tim an diesem Tag so durchdrehte. Das ewige Versagen in der Schule, die Hoffnung auf eine große Tischtenniskarriere, aus der auch nichts wurde, das Fehlen von sozialen Kontakten... Das alles sind Gründe, die einen immer noch nicht verstehen lassen, warum ein junger Mensch deswegen andere umbringt, doch Tims Beweggründe werden anschaulich dargelegt. 
Im zweiten Teil des Buches beschäftigt sich Schattauer mit dem "blutigen Mittwoch" selbst. Der Autor verwendet durch das ganze Buch hindurch Präsens, was dem Leser den Eindruck vermittelte, als wäre er bei allem gerade mit dabei. Ich weiß nicht, ob das für dieses Buch notwendig war. Doch es hat auf jeden Fall dazu beigetragen, die Schrecken dieses Tages emotional rüberzubringen. Mir persönlich kam es auch so vor, als würde das Lesetempo angezogen, je näher Tim seiner Tat kam. Ob es solcher stilistischer Mittel in einem Sachbuch mit diesem Thema braucht, ist eine Frage, ob sie sich streiten lässt.
Ebenfalls kurz Thema ist die Verantwortung und der Prozess von Tims Vater, denn die Tatwaffen waren seine und noch dazu unverschlossen im Haus zu finden. Als das Buch damals erschienen ist, war das Verfahren gegen den Vater allerdings noch am laufen, weswegen die Nacherzählung hier lückenhaft ist.

MEIN FAZIT
Der letzte Schultag ist eine umfangreiche und gut recherchierte Nacherzählung der Geschehnisse rund um den Amoklauf von Winnenden. Göran Schattauer hat hierfür die Ermittlungsakten herangezogen und ein Augenmerk auf den Täter Tim K. gelegt. Etwas zu kurz geraten sind meiner Meinung nach die Ausführungen zu den Opfern. Bis auf eine gelegentliche Einbeziehung in den Ausführungen rund um Tim K. und seine Tat, wurden sie lediglich am Schluss ganz kurz erwähnt. Zwar sollten diese nicht im Mittelpunkt stehen, doch ihre Bedeutung hätte eine etwas ausgiebigere Erwährnung verdient.