Rezension

Der Maler und sein Modell

Nacht ist der Tag - Peter Stamm

Nacht ist der Tag
von Peter Stamm

Bewertet mit 4 Sternen

Matthias hatte Alkohol getrunken, bevor er den Unfall verursachte, der ihn das Leben kosten sollte. Seine Frau Gillian überlebt und erwacht schwer verletzt in einer fremden Umgebung, die durch den Rufknopf für die Krankenschwester begrenzt ist. Gillian muss aus den Satz- und Informationsfetzen um sie herum erst wieder eine Wirklichkeit zusammensetzen. Sie hat Schmerzen und als Folge ihrer Bewusstlosigkeit verwirrende Gedanken. Das Ausmaß ihrer Verletzungen und Matthias Tod erfasst sie zunächst noch nicht. Am Krankenbett wird deutlich, dass Gillian ein sehr schwieriges, kühles Verhältnis zu ihrer Mutter hat und dass im Leben beider Frauen die nach außen gezeigte Fassade zentrale Bedeutung hatte. Gillians Mutter war Stewardess, Gillian arbeitete zuletzt als Moderatorin einer Talkshow. Übergangslos wechselt die Geschichte in die Vergangenheit, als Gillian Kontakt zu einem Künstler suchte, der Frauen nackt malte und fotografierte. Die Beziehung zu Hubert könnte man als Auslöser der Ehekrise zwischen Gillian und Matthias sehen und damit als ursächlich für den tödlichen Unfall. Nach einem Zeitsprung von mehreren Jahren treffen wir Hubert wieder, inzwischen Ehemann, Vater und mitten in einer Schaffenskrise. Weil Hubert als Referent eines Sommerkurses und Artist in Residence in einen Ferienort im Gebirge eingeladen wird, kommt es zu einem Wiedersehen mit Gillian, die dort inzwischen arbeitet und im Ferienhaus ihrer Eltern lebt. Vermutlich als einziger Kontakt in Gillians Leben sah Hubert seit ihrer ersten Begegnung in einer Talkshow hinter Gillians Fassade. Nun ist es an Gillian, in Huberts Krise aufrichtig ihm gegenüber zu sein. Ob Gillian selbst eine vergleichbare Unterstützung erfahren hat, bleibt ungeklärt.

Peter Stamms Hauptfiguren haben mich zunächst wenig interessiert, solange ihre Zugehörigkeit zum Kultur-Establishment im Mittelpunkt stand. Stamms Technik des nüchternen Reduzierens auf das unbedingt Nötige überspringt Gillians Entwicklung aus der persönlichen und beruflichen Krise und lässt nach dem entschiedenen Schnitt den Maler und sein Modell in einem völlig anderen Licht erscheinen. Der entscheidende Abschnitt des Buches fand in meinem Kopf statt. Als Fan von Peter Stamms Kurzgeschichten finde ich seinen kargen Stil in der Wirkung immer wieder verblüffend, wenn seine "schlanken" Texte lange nachklingen.