Rezension

Der Nachbar von gegenüber

Als Hitler unser Nachbar war - Edgar Feuchtwanger, Bertil Scali

Als Hitler unser Nachbar war
von Edgar Feuchtwanger Bertil Scali

Bewertet mit 5 Sternen

»Sie sehen auf die andere Straßenseite, wo ein großer schwarzer Wagen angehalten hat. Ein uniformierter Chauffeur geht um das Auto herum und öffnet die Beifahrertür. Ein Mann steigt aus, er beäugt Tante Bobbie, dann den Herzog, und dann sieht er zu mir herauf. Er trägt einen kleinen schwarzen Schnurrbart, den gleichen wie Papa.«

München, 1929. Der fünfjährige Edgar Feuchtwanger schaut neugierig durchs Fenster auf den neuen Nachbarn, der genau gegenüber seines Hauses in der Prinzregentenstraße eingezogen ist. Edgar ist zu diesem Zeitpunkt ein glückliches Kind. Sein Vater ist Lektor des angesehenen Verlags Duncker & Humblot, seine Mutter ist Pianistin und sein Onkel Lion einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Finanzielle Sorgen hat die Familie auch nicht und so könnte alles perfekt sein – doch die Feuchtwangers sind Juden. Sie praktizieren ihre Religion zwar nicht, Edgar kann sich an jedem Weihnachtsfest über einen Baum und Geschenke freuen und hat ein katholisches Kindermädchen, aber – wie wir wissen – werden diese Dinge schon bald ohne jeden Belang sein.

 

Edgar ist nicht nur sehr zufrieden mit seinem Leben, sondern auch aufgeweckt und klug. Die Erwachsenen um ihn herum kennen tagein, tagaus nur noch ein Thema. Sie sorgen sich, mal mehr, mal weniger und sie debattieren. Anfangs noch mit einer gewissen Leichtigkeit…

»Ach! Ihr hättet Hitlers Gesicht sehen sollen, als er gesehen hat, wie wir einparkten,… Er hat uns nicht erkannt, sagt Onkel Lion. – Gott sei Dank, mein Schatz, bei dem, was du über ihn in den Zeitungen geschrieben hast, entgegnet Tante Marta.«

»Dorle erzählte sofort, Hitler habe einen falschen Namen an seiner Tür. Aber Papa wusste das schon. … Ja, ja, ich weiß, sagte mein Vater. Es ist der Name seiner Haushälterin. Er hat Angst, dass man ihn belästigen könnte. Er ist eine Memme.«

Irgendwann gibt es nur noch ernste Gespräche, in denen offen die Gefährlichkeit Hitlers diskutiert wird. Muss man sich wirklich Sorgen machen?

»Übrigens sieht er jetzt genauso aus wie die, die er neuerdings auf seine Seite ziehen will, die Kleinbürger, die Angst haben, alles zu verlieren und auf der Straße zu landen. Er sieht aus wie wir alle. Er wohnt im selben Viertel, er trägt den gleichen Anzug und er hat die gleichen musikalischen Vorlieben. Aber der Schein trügt, es ist nur eine Maske. In der Dunkelheit haben seine Leutnants weder etwas an ihren Methoden noch an ihren Zielen geändert.«

 

Der kleine Edgar hört alles, aber was davon versteht er? Zunächst nur eins: An diesem neuen Nachbarn ist irgendetwas, das den Erwachsenen um ihn herum Sorgen bereitet. In diesem Buch teilt er mit uns seine Erinnerungen aus den Jahren 1929 bis 1939. Sicher, Edgar wird älter und wird schon bald begreifen, wovon seine Eltern und Verwandten reden. Aber er geht dann auch zur Schule und dort lässt die Lehrerin ihn Hakenkreuze in sein Schulheft malen. Die Verwirrung des Kindes kann man sich leicht vorstellen. Und natürlich kann man so einem Nachbarn auch einfach mal auf der Straße begegnen…

»Er steht vor uns, unten vor seinem Haus. Wir sind stehen geblieben. Rosie rührt sich nicht mehr. Ich sehe, dass er sich ein bisschen geschnitten hat beim Rasieren, was meinem Vater auch manchmal passiert. Er hat blaue Augen. Das wusste ich nicht. Man sieht es nicht auf den Fotografien. Ich dachte, sie seien ganz schwarz. ... Er hat Haare in der Nase und auch ein paar in den Ohren. Von Nahem sieht er kleiner aus. Kleiner als mein Vater. Kleiner als Rosie. ... Er sieht mich an. Ich sollte den Blick senken. Aber ich kann nicht. Ich starre ihn an. Sollte ich ihn anlächeln? Ich bin immerhin sein Nachbar!«

 

Eine unglaubliche Geschichte ist das! Und doch ist es eine wahre Geschichte. Da lebt ein Junge 10 Jahre lang vis-à-vis mit einem Menschen, der ihn und seinesgleichen töten will. Aber natürlich wissen der Junge und seine Familie dies anfangs nicht, das Grauen und die Erkenntnis werden sich langsam immer mehr in ihr Bewusstsein schleichen. Aus heutiger Sicht, mit dem Wissen um all das, was später geschah, fragt man sich, wieso die Feuchtwangers nicht schon früh das Land verlassen haben. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass der menschliche Verstand sich lange sträubt, bestimmte Dinge auch nur für möglich zu halten.

 

Und so verfolgen wir Edgars Leben in den Folgejahren. Erleben mit, wie er zum Außenseiter in der Schule wird, wie sein ehemals bester Freund sich von ihm abwendet und wie sein geliebtes Kindermädchen von einem Tag auf den anderen nicht mehr da ist. Wir lesen von seinen Ängsten und Sorgen und wir sind dabei, wenn er Stück für Stück begreift, was um ihn herum geschieht und dies mal pragmatisch behandelt, mal leicht sarkastisch kommentiert. Und immer ist da dieser Nachbar, um den seine Gedanken unaufhörlich kreisen, dieser Blick aus dem Fenster…

»Hinter der Absperrung überwachen Soldaten in Habachtstellung die Mercedes-Wagen. Ich erkenne die Wachleute wieder, denn ich sehe sie ja jeden Tag, aber sie bemerken mich nicht, den kleinen unsichtbaren Juden. ... Ich stelle mir Hitlers Leben vor und frage mich, was er zum Frühstück isst. Ich sehe seinen Schatten am Fenster. Er hasst uns. Er hasst mich. Ohne überhaupt zu wissen, dass es mich gibt. … Er weiß nicht, dass ich ihn beobachte, dass ich da bin. Er hat keine Ahnung davon, dass genau ihm gegenüber in zehn Jahren ein Kind herangewachsen ist, das eines Tages Zeugnis ablegen wird.«

 

Fazit: Faszinierende Geschichte, sehr intensiv erzählt. Ich kann jeden, der an Zeitgeschichte interessiert ist, nur einladen, dieses Zeugnis zu lesen.

 

Die Erinnerungen enden im Jahr 1939. Das Nachwort beantwortet die Frage, was aus Edgar, seiner Familie und seinen Freunden geworden ist und befasst sich mit der Entstehungsgeschichte dieses Buchs.

 

»Somit schildert diese Erzählung den Prozess einer Bewusstwerdung – wenn nicht seiner eigenen Identität, so doch jener Identität, die andere ihm zu geben beschlossen hatten, das heißt vielmehr ein anderer – in diesem Fall sein Nachbar von gegenüber: Adolf Hitler.«