Rezension

Der Weg eines 'stummen' Kindes aus der Sprach- und Wortlosigkeit

Der Stift und das Papier - Hanns-Josef Ortheil

Der Stift und das Papier
von Hanns-Josef Ortheil

Bewertet mit 5 Sternen

Ein faszinierendes Buch über die sprachliche Entwicklung eines 'stummen' Kindes, zugleich eine Anregung, wie man sich die Welt mit Hilfe eines Tagebuchs erschließt

Man muss wissen, dass der kleine Junge in diesem Buch Hanns-Josef Ortheil selber ist, ein Kind, das jahrelang stumm war, weil die Mutter nicht mit ihm sprach, so dass er den Zusammenhang zwischen Laut und Ding nicht begriffen hatte. Was im ersten Moment ungeheuerlich erscheint, wird verständlich, wenn man weiß, dass der Mutter vier Söhne gestorben waren!!!

Als das Kind in die Schule kam, wurden die Schwierigkeiten so groß, dass der Vater etwas unternehmen musste. Er dachte sich eine ganz eigene Methode aus: ließ den Jungen zuerst das Papier sinnlich erfassen, Linien zeichnen, Bildchen aus dem Duden abmalen, Wörter dazu schreiben. Sie machten Ausflüge, um die Bedeutung der Dinge mit dem Lautbild zu verknüpfen. Das alles wurde zu Hause aufgeschrieben, erst nur Wörter, später ganze Sätze. Das Schreiben wurde zur Methode, die Welt und die Sprache in ihrem Zusammenhang zu begreifen.

Alle Aufzeichnungen wurden sorgfältig verwahrt und in regelmäßigen Abständen wieder angesehen. Der Vater dachte sich immer wieder Neues aus, z.B. einige Sätze der Woche untereinander schreiben als eine Art Gedicht.

Diese intensive Sicht auf die Welt erinnert mich an die Wirkungen, die das Bloggen oder Fotografieren hat.

"Ich schrieb mein Leben auf, ich wurde aufmerksam auf jede Kleinigkeit, ja, ich hatte manchmal sogar das Gefühl, doppelt zu leben (im 'richtigen' Leben und im 'aufgeschriebenen' Leben).

Es sind Miniaturen, Alltagsdinge, wie Datum und Wetter, welche Farbe der Himmel hat, Ausschnitte aus der Tageszeitung, Ortheils Kommentare dazu. Als die Mutter kocht, schreibt er z.B.:

"Die glitschigen Pfifferlinge abwaschen. Ihre dürren Leiber trocknen und wie Wäsche zum Trocknen auf ein Küchentuch legen. Sie mit dem Tuch betupfen, bis sie um Hilfe schreien. Sie erlösen, indem man sie in heiße Butter wirft."

Im Alter von acht hat Ortheil mit diesen Tagesseiten begonnen. Er schreibt sie immer noch und hat inzwischen über tausend Notizbücher archiviert, eine Chronik seines Lebens.

"Jede Seite sammelte unverwechselbare und einzigartige Momente, und dadurch wurde auch jeder Tag zu einem unverwechselbaren und einzigartigen Erlebnis. Mochte ich auch häufig nur banale und oder auf den ersten Blick nicht weiter erwähnenswerte Dinge notiert haben, so erscheinen diese Notizen aus dem Rückblick doch wie interessante und seltene Besonderheiten mit einem starken Zeitkolorit."

Die hier beschriebene Methode des Vaters hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass aus dem einstmals stummen Kind ein Professor für Literatur und kreatives Schreiben und ein Autor vieler Romane und Sachbücher wurde.