Rezension

Desillusionierende Dystopie...

Acqua alta -

Acqua alta
von Isabelle Autissier

Bewertet mit 4.5 Sternen

Desillusionierende Dystopie, beängstigend nah an der Realität - ist Venedig dem Untergang geweiht? Ein sehr informativer Roman...

2021: Venedig ist von den Wassermassen eines letzten Acqua alta verschlungen worden. Guido Malegatti, einer der Überlebenden, fährt mit dem Boot durch die Ruinen, auf der Suche nach Frau und Tochter. Zwei Jahre zuvor: Angesichts des drohenden Meeresspiegelanstiegs bahnt sich der Konflikt innerhalb der Familie an. Guido als Wirtschaftsrat schwört auf den Tourismus und die Segnungen der Technik. Seine Frau Maria Alba schwelgt in der vergangenen Pracht einer Stadt am Rande des Zusammenbruchs. Und ihre 17-jährige Tochter Léa wird in dem Versuch, die geliebte Stadt zu retten, zur Gegnerin ihres Vaters. Isabelle Autissier entwirft das so dramatische wie realistische Szenario vom Untergang Venedigs. Mitreißend zeichnet sie der Perspektive dreier Familienmitglieder nach, wie es zur Katastrophe kommt, und stellt uns alle vor die Frage: Wie würde ich mich verhalten? (Verlagsbeschreibung)

Einen beeindruckenden Roman präsentiert Isabelle Autissier hier. Sie entwirft ein Untergangsszenario Venedigs, das überaus glaubhaft und deshalb um so erschütternder wirkt.

Im Zentrum des Geschehens stehen die Mitglieder der Familie Malegatti. Diese sind recht prototypisch gezeichnet, was hier aber passend erscheint, da die drei Figuren für jeweils eine andere Position stehen.

Der Vater Guido stammt aus ärmlichen Verhältnissen und hat sich hochgearbeitet, die Hochzeit mit der Tochter einer alteingesessenen venezianischen Adelsfamilie war nur das Sahnehäubchen auf seinem Erfolg. Seither stehen ihm alle Türen offen, und so hat er es bis in die Politik geschafft. Als Wirtschaftsrat kümmert er sich nun um die Finanzen der Stadt und fördert den Tourismus um jeden Preis. Er schlägt die Warnungen vor den Folgen für die Lagune und die Stadt in den Wind, und er vertraut bedingungslos dem Sturmflutsperrwerk MO.S.E. (Modulo Sperimentale Elettromeccanico), das bereits Millarden verschlungen hat und für das jedes Jahr weitere 100 Millionen Euro bereitgestellt werden müssen.

Die Mutter Maria Alba steht für das alte Venedig und den alten Adel. Immer auf akkurates Auftreten bedacht, widmet sie sich den Schönheiten des Lebens und der Stadt. Maria Alba war nie in finanziellen Nöten und bemüht sich, ihrer Tochter das alte Venedig nahezubringen, sie auf die verfallenden Sehenswürdigkeiten aber auch auf die kleinen Besonderheiten der Stadt aufmerksam zu machen. Auf die zunehmenden Rivalitäten zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter reagiert sie mit Rückzug. Sie ist die Beobachtende, die Abwartende, die das Geschehen und Handeln anderen überlässt.

Die Tochter Léa wächst wohlbehütet bei ihren Eltern auf, stellt aber mit Beginn ihres Studiums zunehmend einige Standpunkte ihres Vaters in Frage. Sie erfährt viel über die Folgen des Klimawandels, der Industrialisierung, des Tourismus für ihre Stadt - und begreift, dass sie etwas unternehmen muss. Auch das von ihrem Vater so hochgelobte Sturmflutsperrwerk MO.S.E. sieht sie zunehmend kritisch, und das aus gutem Grund. Zu Beginn nimmt Léa nur an Demonstrationen teil, später geht sie in den aktiven Widerstand und verlässt ihre Familie.

All diese Informationen erhält der Leser im Verlauf - nachdem Venedig bereits zerstört wurde. Guido Malegatti hat die Katastrophe überlebt, Mutter und Tochter bleiben vermisst. Monate nach der fürchterlichen Überschwemmung der Stad fährt er mit seinem Boot durch die die Kanäle Venedigs und ist erschüttert vom Ausmaß der Zerstörung. Rückblicke in die Vergangenheit zeugen von den Streitigkeiten zwischen den Befürwortern von Tourismus und Technik und den Mahnern, die vor der Katastrophe warnten. Acqua alta - das winterliche Hochwasser - nimmt seit Jahren an Häufigkeit zu. Ob MO.S.E. hält, was die Betreiber versprechen, wird die Zukunft zeigen.

Penible Recherche liegt diesem Roman zugrunde, der viele Informationen zu den genannten Themen bietet. Sowohl die Funktionsweise des Sturmflutsperrwerks als auch die Argumente für und wider Massentourismus und die Veränderungen in Stadt und Lagune in den letzten Jahrhunderten, v.a. Jahrzehnten werden hier nachvollziehbar dargelegt. Daneben wird immer wieder auch auf die Schönheit Venedigs eingegangen, das Altehrwürdige, die besondere Stimmung zu unterschiedlichen Tageszeiten - und auf den allmählichen Verfall.

Wehmut und Desillusion durchziehen den Roman, was das Ende noch bestärkt. Was mag sich nach solch einer Katastrophe ändern? Autissier deutet an: der Mensch wohl nicht.

Und das beschränkt sich wohl kaum nur auf die Situation um Venedig...

 

© Parden