Rezension

Die Bilanz eines Lebens mit einem behinderten Kind

Licht scheint auf mein Dach - Kenzaburô Ôe

Licht scheint auf mein Dach
von Kenzaburô Ôe

Bewertet mit 4 Sternen

Als Kenzaburô Ôe 1994/1995 in zwei schmalen Bänden die Bilanz eines Lebens mit seinem körperlich und geistig behinderten Sohn zieht, ist der japanische Literaturnobelpreisträger 60 Jahre alt, Hikari, der tagsüber in einer Behindertenwerkstatt betreut wird, 31. In diesem Alter haben Eltern behinderter Kinder sich meist damit auseinandergesetzt, dass sie vor ihren Kindern sterben werden und das behinderte Familienmitglied spätestens dann in einer Pflegeeinrichtung leben wird. Ôe sinnt u. a. über den Arzt Dr. Moryasu nach, der Hikari operiert hat und der Familie bis zu seinem Tod verbunden blieb. Hikari hat einen einzigartigen Weg gefunden, sich als Komponist durch die Musik auszudrücken, auch wenn ihm im Alltag die Beschreibung von Emotionen stets schwer fiel. Die Fachsprache der Musik lässt sich von Hikari viel konkreter benutzen als die Alltagssprache. Thema dieser Bilanz ist wie schon in "Stille Tage" auch der Einfluss des Lebens mit einem behinderten Kind auf die Geschwister. Ôe analysiert seine Phasen der Auseinandersetzung mit Hikaris Behinderung und definiert den Vorgang als eine Reifungskrise in einem noch sehr unreifen Lebensalter. Ôes erstes Buch über Hikari "Eine persönliche Erfahrung" diente ihm zur Überwindung dieser Krise. Auch in dieser Bilanz präsentiert Ôe das Bild der Familie als Astwerk eines Baumes. Bemerkenswert finde ich noch immer die sehr stille, duldsame Rolle, die die Mutter und die Schwester Hikaris in Ôes Werk einnehmen, ganz im Gegensatz zum weltgewandten Vater, der reist und unterrichtet, während Mutter oder Schwester in dieser Zeit zuhause in Japan Hikari betreuen.

Zum Verständnis von Ôes Werk empfehle ich Ihnen, seine Bücher über Hikari in der Reihenfolge der Veröffentlichung zu lesen:
Eine persönliche Erfahrung (1994) (Kojinteki na taiken, 1964)
Stille Tage (1994) (Shizuka na seikatsu, 1964), 1995 verfilmt