Rezension

Die Entschleunigung der Paris-Reise

Paris, links der Seine - Hanns-Josef Ortheil

Paris, links der Seine
von Hanns-Josef Ortheil

Bewertet mit 5 Sternen

Ein niveauvolles, beschauliches Buch, in kleinen Dosen genossen, hat etwas von einem  ... Feinkostladen.

Es ist schon etwas anderes, einfach durch diese Straßen zu streifen und Cafés und Galerien wahrzunehmen. Oder einzutauchen in deren Atmosphäre, die kulturellen und gesellschaftlichen Strömungen, deren Geist sozusagen in diesen Vierteln weht. Hanns-Josef Ortheil hat dies mit den beiden Vierteln St.-Germain-des-Prés und Quartier Latin getan, viel mehr, zelebriert. Herausgekommen ist dabei ein erlesener Führer durch Pariser Feinkostläden und Spezialitätenrestaurants. Stets angereichert mit einer Prise Literatur. Oder einer Filmszene. Oder interessantem Hintergrundwissen über einstige Künstler- und Literatentreffs. Es ist kein Roman, auch kein aufsehenerregender Erlebnisbericht. Ortheil führt uns einfach behutsam, in seiner einnehmenden Schreibweise, von Straße zu Straße, von Platz zu Platz, von Szene-Buchladen zu geschichtsträchtigem Café. Und doch ist es alles ganz dicht, ganz intensiv. Der Autor flaniert nicht nur durch die Straßen, er geht auch in die École des Beaux Arts hinein und unterhält sich mit den Studenten, lässt sich von einer jungen Kunststudentin in ein Szenebistro ausführen und einzelne Stadtimpressionen erläutern. So entsteht immer wieder nicht nur ein besonderes Stimmungsbild, sondern man beginnt auch, durch die begeisterten Augen des Autors kulturelle Strömungen und Tendenzen in dieser Stadt zu erfühlen.

Man erfährt Außergewöhnliches über Pariser Künstler und über das Entstehen ihrer Kunstwerke. Man liest zum Beispiel von dem mittellosen Maler Maurice Duval, der abends seine Leinwand in der Seine abwusch, um am nächsten Tag wieder darauf malen zu können - von dem Fotografen Robert Doisneau, der solche Einzelschicksale fotografiert und ausgestellt hat. Wir lernen den Élan vital kennen, laut Ortheil "eine der stärksten Kräfte und eines der tiefsten Geheimnisse des Pariser Lebens". Wir erfahren, welche Konversationstechnik Karl Lagerfeld benutzt, hören von der Schreibweise des Enzyklopädisten Denis Diderot, von der Lebensphilosophie eines Christian Dior, lernen die legendären Buchhändlerinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach kennen und lesen ungläubig, dass Hemmingway im Januar 1945 mit seiner eintreffenden Kompanie auf Bitten der Buchhändlerinnen die letzten verschanzten Nazi-Heckenschützen vom Dach holte. Gerne würde ich etwas mehr festhalten können von dieser furiosen Tour durch die Geistesgeschichte von Paris.

Ich kann nicht ausschließen, dass sich ein Leser, der mit Kunst und Kultur wenig am Hut hat, bei der Lektüre grenzenlos langweilt. Es  ist schon ein Buch für wahre Liebhaber. Ich würde mich zwar nicht zu den solchen zählen, war aber dennoch sehr fasziniert, wie liebevoll und schriftstellerisch gekonnt Ortheil in sehr speziellen, intimen Beschreibungen ins Innere der berühmten Metropole abtaucht.

Was mir beim Lesen hin und wieder aber doch ein wenig fehlt, ist die eigene Paris-Erfahrung. Es ist doch ein Nachteil, in der Millionen-Metropole immer nur umgestiegen zu sein ... eigentlich muss man dieses Buch lesen, wenn man gerade in Paris war, oder noch besser, wenn man hinzufahren gedenkt, oder - best of all - wenn man gerade da ist. Auf jeden Fall aber sollte man einen detaillierteren Stadtplan haben als den hinten im Buch abgedruckten; man könnte dann wenigstens aus der Luft die Flanierroute des begeisterten Autors ein wenig genauer nachvollziehen - so ist es doch eher eine Art detektivischer Schnitzeljagd... Aber ich staune, wie virtuos Ortheil dann immer wieder ein auf den ersten Blick recht dröges Thema in so einen prickelnden Lesegenus verzaubern kann.

Durch sein umfangreiches Hintergrundwissen macht Ortheil die Lektüre außerdem zu einem echten Bildungsgewinn. Man bekommt richtig Lust, in die erwähnten literarischen Werke tiefer einzutauchen. Wenn man beispielsweise bisher Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir nur dem Namen nach kannte, weiß man nach dieser Lektüre über die beiden Bescheid, über ihre Beziehung, über das Wesentliche ihrer Arbeit. Und Ortheil schafft es tatsächlich, selbst im nur spärlich mit französischer Literatur vertrauten Leser ein Interesse für das ungewöhnliche Literatenpaar zu wecken. Das Buch bildet also im günstigen Falle ganz außerordentlich. Im ungünstigeren Fall liest man auch schon mal jede Menge Namen und Zusammenhänge, die einem wie böhmische Dörfer vorkommen.

Mittendrin gerät Ortheils Parisspaziergang auch mal zu einem Schreiben über das Schreiben, so wie andere eine Oper über die Oper komponieren. Das ist alles schon sehr sophisticated, wenn mir dieses fremdländische Wort in diesem Zusammenhang gestattet ist.
Wenn der Autor dann auch noch die junge Kunststudentin Arlette über "die feinen Spielarten der Pariser Konversation" ausfragt, gebe ich mich geschlagen. Aber nur, um eine Seite später wieder überrascht an den Lettern zu kleben, wenn man aus dem Munde der jungen Französin hört, warum sie das Gesprächstempo der Deutschen als langweilig empfindet. Und wenn Arlette dann loslegt und die "Königsliga der eruptiven Monologe" beschreibt, muss ich schon schmunzeln. Und interessanterweise versteht man auf einmal, nach Lektüre dieses Kapitels, die Musik Maurice Ravels, obwohl der im Buch gar nicht vorkommt ...

Persönliches Pech der Rezensentin, dass sie keinen Wein trinkt. Dadurch lassen mich die ergötzlichen Besuche gewisser Lokalitäten teils ein wenig kalt, was ich aber nun dem Autor nicht ankreiden kann. Auch ist es hin und wieder schon etwas ermüdend, ständig von Speisen zu lesen, die man sich eh' nicht leisten kann. Wer hingegen seine Städtetouren nicht nur gerne mit kulturgeschichtlichen Reflexionen, sondern auch mit kulinarischen Hochgenüssen, zuzüglich eines guten Tropfens garniert, für den wird dieser Parisführer der speziellen Art eine wahre Fundgrube sein.

Kommentare

Arbutus kommentierte am 02. Januar 2019 um 16:01

Da ich die Rezension im Nachhinein nicht mehr bearbeiten kann, hier eine kleine, aber wichtige Korrektur: das oben kursiv gedruckte Zitat ist, wie ich eben feststellen musste, gar nicht von Ortheil, sondern ... von mir.