Rezension

Die Geschichte einer grotesken Freundschaft

Mister Creecher - Chris Priestley

Mister Creecher
von Chris Priestley

*Worum geht's?*
London, 1818: Der Straßenjunge Billy kämpft ums nackte Überleben. Bloß durch Diebstähle schafft er es, sich über Wasser zu halten. Als die Lage brenzlig wird und Billys Leben auf dem Spiel steht, wird er unverhofft von einem Riesen gerettet. Billy ist der groteske Mann nicht geheuer, doch er steht eindeutig in seiner Schuld. Als Gegenleistung bittet das Ungetüm, das sich als Mister Creecher vorstellt, Billy darum, zwei Männer in London zu beschatten. Eigentlich will der Straßenjunge lieber verschwinden und nichts weiter mit Creecher zu tun haben, aber er weiß genau, dass er bei dem Riesen sicher ist. Mehr aus Angst um die eigene Sicherheit als aus Nächstenliebe geht Billy Creechers Bitte nach. Doch je länger die beiden miteinander zu tun haben, desto stärker entwickelt sich aus dem ursprünglichen Handel eine tiefe Freundschaft. Gemeinsam machen sie sich auf eine blutige Reise in Richtung Norden, wo Creecher endlich demjenigen zu begegnen hofft, der untrennbar mit ihm verbunden ist: Viktor Frankenstein. Denn der hat Mister Creecher vor langer Zeit ein wichtiges Versprechen gegeben; ein Versprechen, das um jeden Preis eingehalten werden muss...

*Kaufgrund:*
Auch "Mister Creecher" ist mir in der bloomoon-Verlagsvorschau aufgefallen. Ich bin ein großer Fan von Chris Priestley und seinen Schauergeschichten und konnte deshalb selbstverständlich nicht auf sein neues Buch verzichten!

*Meine Meinung:*
"Mister Creecher", das neue Buch des Gruselautors Chris Priestley, geht in eine ganz andere Richtung als seine berühmten Schauergeschichten. Dunkel und düster bleibt es, aber diese Geschichte ist keine Ansammlung von furchteinflößenden Gruselgeschichten, sondern eine sonderbare Erzählung über eine noch viel sonderbarere Freundschaft zwischen dem Straßenjungen Billy und dem riesigen Ungetüm Mister Creecher. Es ist eine zusammenhängende Geschichte, die einen ab der ersten Seite fesselt und nicht mehr loslässt. Obwohl das Cover eher an ein Kinder- als an ein Jugendbuch erinnert, kann ich jungen Lesern nur dringend davon abraten. Es gibt einige grausame Szenen, es wird sehr schaurig und außerdem bietet Chris Priestley tiefe Einblicke in die menschliche Psyche, die für Kinder noch gar nicht greifbar sind. "Mister Creecher" ist eine bezaubernde und zugleich melancholische Geschichte, die ihren Lesern zwar versucht, Moralvorstellungen zu übermitteln, aber gleichzeitig zeigt sie auch, wie ignorant, egoistisch und intolerant Menschen sein können. Der Roman hat humorvolle und witzige, berührende und emotionale Seiten, ist zugleich aber auch dunkel und düster, schrecklich und erschreckend.

Chris Priestley hat sich von verschiedenen Klassikern zu "Mister Creecher" inspirieren lassen. Sowohl Mary Shelleys "Frankenstein" als auch Charles Dickens "Oliver Twist" haben die Geschichte mitbestimmt, aber auch Robert Louis Stevensons "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" und die Gedichte von John Keats spielen eine Rolle. Während sich Priestleys Geschichte mehr oder weniger genau an die Begebenheit aus Shelleys "Frankenstein" hält, gar komplett auf ihr basiert, und sogar einige Figuren aus Shelleys Feder übernommen wurden, hat sich Priestley aus "Oliver Twist" bloß ein paar Figuren geliehen.

Wie genau "Mister Creecher" und die Klassiker, die das Buch begründen, zusammenhängen und welche Absichten der Autor dabei hegte, erläutert Priestley in seinem ausführlichen Nachwort. Dabei geht er nicht nur auf die Handlungsstränge und Charaktere ein, die er übernommen hat, sondern auch auf die Hintergrundgeschichten der Autoren und ihrer Geschichten. Erst hier wird deutlich, wie viel Liebe zum Detail Chris Priestley in "Mister Creecher" beweist und welch großartige Recherchearbeit er geleistet hat. Wer "Frankenstein" und/oder "Oliver Twist" bereits selbst gelesen hat, wird in diesem Roman ob der Parallelen einige Male Schmunzeln müssen.

Der Abschluss der Geschichte entspricht in keinster Weise dem, was man im Verlauf der Geschichte erdacht haben könnte, und wird die Meinungen der Leser sicherlich spalten. Ich persönlich finde das offen gehaltene Ende toll und absolut passend für den gesamten Roman. Hier kommt wieder der Chris Priestley an die schreiberische Oberfläche, der mich bereits in seinen Kurzgeschichtensammlungen von sich überzeugen konnte. Obwohl ich zugeben muss, dass auch ich mir ein anderes Ende gewünscht hätte, konnten mich die letzten Seiten auf eine traurige Art und Weise begeistern. Trotz der vielen unbeantworteten Fragen ist eine Fortsetzung wohl ausgeschlossen, denn der Autor verweist in seinem Nachwort auf "Frankenstein" und "Oliver Twist", falls man auf der Suche nach Antworten ist.

Der fünfzehnjährige Billy ist der Protagonist der Geschichte. Er ist ein liebenswerter Junge, den man sofort ins Herz schließt, auch wenn er nicht unbedingt das Herz am rechten Fleck trägt. Er ist ein Waisenjunge, der sein Leben mehr schlecht als recht durch Taschendiebstähle finanziert, und hat trotz seines jungen Alters schon einiges mitmachen müssen. Kein Wunder also, dass er deshalb sehr vorsichtig ist und in erster Linie an sich selbst denkt. Denn Billy weiß genau: Wenn er nicht an sich denkt, dann tut es niemand. All das ändert sich jedoch, als er dem Riesen Mister Creecher begegnet. Was als Zweckbeziehung beginnt, entwickelt sich mehr und mehr zu einer tiefen Freundschaft, an der Billy wachsen kann.

Frankensteins Monster, genannt Mister Creecher, ist die zweite Hauptfigur der Geschichte und eine Person voller Gegensätze. Er ist riesig, furchteinflößend, stark und hässlich, doch in seinem Inneren ist er ein liebenswertes Geschöpf, das sich an der Literatur erfreut, das Leben schätzt und sich bloß nach Anerkennung und Liebe sehnt. Man kann gar nicht anders - man MUSS Mister Creecher mögen! Auch wenn man manchmal nicht ganz weiß, wie man ihn und seine Taten einschätzen soll. Creecher ist ein komplizierter Charakter mit vielen Facetten, den man nicht auf "Frankensteins Monster" reduzieren kann, den man kennenlernen und entdecken muss.

Die Nebencharaktere spielen in "Mister Creecher" kaum eine Rolle, trotzdem hat sich Chris Priestley viel Mühe mit ihnen gegeben. Obwohl sie recht oberflächlich bleiben, mochte ich sie gern. Sie fügen sich perfekt in das Geschehen ein und verleihen ihr den letzten Schliff, den die Geschichte gebraucht hat. Besonders toll fand ich, dass sich Priestley sehr genau an Shelleys Romanvorlage gehalten hat und genau die Figuren in "Mister Creecher" einfließen lässt, die es in "Frankenstein" tatsächlich gegeben hat. Aber auch Mary Shelley und ihr Mann hat der Autor einen Gastauftritt in seiner Neuerzählung geschenkt. Mit solchen Aufmerksamkeiten hat Priestley seine Nebencharaktere einzigartig gemacht, ohne ihnen sonderlich viel Beachtung zu schenken.

Chris Priestleys Schreibstil ist und bleibt ein Highlight, denn kaum ein Autor schafft es, mit so viel Witz und Charme zu schreiben und zugleich eine so düstere Atmosphäre mit seinen Worten zu erschaffen, dass man eine Gänsehaut bekommt. Sein Schreibstil ist flüssig und einfach und reißt einen in einen aufregenden Lesefluss, aus dem man sich nicht mehr befreien kann. Mich hat die Sprache absolut gepackt und deshalb habe ich "Mister Creecher" mit seinen 400 Seien in einem Rutsch durchgelesen. Es hat einfach zu viel Spaß gemacht, als dass ich das Buch hätte beiseite legen können. Was mir allerdings spürbar gefehlt hat, waren die beeindruckenden Illustrationen von David Roberts, der auch Priestleys Schauergeschichten begleitete. Seine Illustrationen hätten sicherlich auch gut in "Mister Creecher" gepasst; warum er diesmal jedoch nicht mitwirkte, ist mir nicht bekannt.

*Cover:*
Mister Creecher und Billy vor dem riesigen Mond - wenn das nicht klasse aussieht und Blicke auf sich zieht, was dann?! Ich bin ein riesiger Fan dieses Covers und kann mich gar nicht daran sattsehen! Was ich allerdings ein wenig schade finde, ist, dass die Silhouette von Mister Creecher dem Monster von Frankenstein ähnelt, was man aus den Filmen kennt. Denn das Film-Monster hat eigentlich nur wenig mit Shelleys Original zu tun, was auch in Priestleys Roman mitspielt.

*Fazit:*
"Mister Creecher" von Chris Priestley ist ein wundervoller Roman über eine sonderbare Freundschaft. Die Geschichte basiert sowohl auf Shelleys "Frankenstein" als auch auf Dickens "Oliver Twist" und vereint damit zwei Klassiker, die auf den ersten Blick nicht zu einander passen, aber eigentlich großartig harmonieren. In Priestleys Neuerzählung liegt der Fokus auf Mister Creecher, der so gar nichts mit dem Wesen gemein hat, das die Horrorverfilmungen immer wieder darstellen. Die Freundschaft zwischen dem Straßenjungen Billy und Frankensteins Monster ist dunkel und düster, begeistert aber auch mit viel Witz und Charme und einer großen Portion Melancholie. Ein wunderbarer Roman, der mich absolut begeistern konnte. Ich kann "Mister Creecher" allen Frankenstein-Fans nur dringend ans Herz legen und vergebe 4 Sterne.