Rezension

Die Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit

Zeit der Schuldigen -

Zeit der Schuldigen
von Markus Thiele

Bewertet mit 5 Sternen

Hambühren im August 1981. Nina Markowski ist ein fröhliches 17-jähriges Mädchen, das mit ihren Freundinnen den Sommer genießt. Auf dem jährlichen Schützenfest trifft sie den fast doppelt so alten Volker März. Ein netter Kerl, der Nina aus einer brenzligen Situation befreit. Die beiden freunden sich an, gehen Eisessen, hören gemeinsam Musik. Als Volker sich eine intensivere Beziehung wünscht, macht Nina ihm klar, dass sie nichts für ihn empfindet. Sie hat sich in einen Mitschüler verliebt und bittet Volker, das zu akzeptieren.

Einige Monate später, am 4. November 1981, wird Nina auf dem Nachhauseweg von der Chorprobe vergewaltigt und bestialisch ermordet - 22 Messerstiche, die Kehle bis auf die Halswirbelsäule durchgeschnitten. Dringend tatverdächtig: Volker März. Doch die Beweise reichen nicht aus, Volker wird rechtskräftig freigesprochen. Erst im Jahr 2012 lässt sich mittels DNA-Analyse einwandfrei seine Schuld beweisen. Doch für ein neues Verfahren ist es zu spät, denn laut Gesetz darf niemand nach einem Freispruch ein weiteres Mal für dieselbe Tat angeklagt werden - Volker März bleibt ein freier Mann…

Ninas Vater Hans kann und will sich nicht damit abfinden, dass niemand für die Ermordung seiner Tochter zur Rechenschaft gezogen wird. Über mehrere Jahrzehnte hinweg kämpft er für Gerechtigkeit. Dabei wird er allerdings weder von Hass getrieben, noch trachtet er nach Vergeltung. Ganz anders Hauptkommissarin Anne Paulsen. Anne will März aus einem ganz persönlichen Grund drankriegen und setzt dafür alles aufs Spiel. Nach akribischer Vorbereitung ist es im November 2022 soweit, ein sorgfältig ausgeklügelter Plan soll den mittlerweile 72-jährigen Mann endlich dingfest machen.

In seinem von einem wahren Verbrechen inspirierten Roman „Zeit der Schuldigen“ nimmt Markus Thiele den Leser mit auf eine fesselnde Zeitreise in die 1980er Jahre und erzählt die Geschichte der Schülerin Frederike von Möhlmann nach, die 1981 brutal ermordet wurde und deren Mörder trotz aller Anstrengungen der Opferfamilie auch über 40 Jahre nach der Tat ganz rechtmäßig sein Leben als freier Mann lebt.

Markus Thiele hat die realen Ereignisse und die Prozesshistorie rund um diesen Mordfall mit einer spannenden, für mich äußerst glaubwürdigen fiktiven Handlung verwoben. Er beschreibt seine Akteure vielschichtig und lebensnah und schildert deren Beziehungen zueinander überzeugend. Der Fall wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, so dass ich mir ein umfassendes Bild von der Zeit vor und nach dem Mord machen kann.

Der Autor gewährt mir zunächst einmal tiefe Einblicke in das Leben der 17-Jährigen. Nina ist ein ganz normaler Teenager. Sie wirkt emotional sehr verunsichert, was in ihrem Alter kein Wunder ist. Ich lerne sie gut kennen, begleite sie bis zu dem verhängnisvollen regnerischen Abend im November ’81. Anschaulich und eindringlich schildert Markus Thiele dann, was ihr Vater Hans über viele Jahre hinweg durchstehen muss. Seine Trauer und seine Verzweiflung sind für mich greifbar. Ich leide mit ihm, kann sein Hoffen und Bangen sehr gut nachvollziehen und spüre, wie die Rückschläge an seinen Kräften zehren. Mitgerissen haben mich auch die Ereignisse, die in dem Part rund um Anne Paulsen spielen. Der Autor lässt mich anfangs nur erahnen, was Anne antreibt und schickt mich auf eine emotionale Achterbahnfahrt - obwohl ich Annes tatsächliches Motiv erst ganz zum Schluss erfahre, obwohl ich weiß, dass Selbstjustiz niemals eine Option sein darf, fiebere ich intensiv mit ihr mit und ertappe mich immer wieder dabei, dass ich mir wünsche, dass ihr Plan am Ende erfolgreich sein möge. Warum nicht die Dinge selbst in die Hand nehmen, wenn man derart von Recht und Gesetz im Stich gelassen wird?

Markus Thiele versteht es ganz ausgezeichnet, in seinen Romanen die juristische Sichtweise auf gesellschaftlich gewichtige Themen auch für den Laien leicht verständlich darzustellen und lädt seine Leser damit ein, über diese Dinge nachzudenken und sich ein eigenes Bild zu machen.

Der Fall Frederike Möhlmann und auch die jahrzehntelangen Bemühungen ihres Vaters, für Gerechtigkeit zu sorgen, waren mir durch die Berichterstattung in der Medien schon bekannt. „Zeit der Schuldigen“ hat mir jetzt zusätzlich einen interessanten Einblick in den Ablauf der Ermittlungen und der Gerichtsverhandlungen geboten. Ich bleibe nach dem Lesen des Romans emotional aufgewühlt zurück. Ich kann es einfach nicht fassen, wie weit Recht und Gerechtigkeit hier auseinanderklaffen. Es fühlt sich für mich völlig falsch an, dass ein Mörder, dessen Schuld nachgewiesen ist, straffrei bleibt. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass jemand, der ohne Zweifel der Täter ist, rechtmäßig geschützt wird.

„Zeit der Schuldigen“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff gehabt - eine mitreißend erzählte Geschichte, die den Leser intensiv an der Prozesshistorie eines wahren Verbrechens teilhaben lässt. Absolute Leseempfehlung!