Rezension

Die Revolution des Status Quo

Before They Are Hanged - Joe Abercrombie

Before They Are Hanged
von Joe Abercrombie

Bewertet mit 5 Sternen

„Before They Are Hanged“ war für die High Fantasy ein Segen. Es ist eine Fortsetzung, in der Joe Abercrombie alles auf den Kopf stellt, was das Genre bis dahin auszeichnete. Und diese Revolution des eingestaubten Status Quo war dringend nötig.

Joe Abercrombie ist nicht als erfolgreicher Fantasy-Autor auf die Welt gekommen. In einem früheren Leben war er Filmeditor: Er war für den Schnitt und die Montage von gedrehtem Rohmaterial verantwortlich. Als Freelancer hatte er oft recht viel Freizeit zwischen seinen Beauftragungen. 2001 befand er, dass er diese Zeit besser nutzen konnte, als sie mit Videospielen und Nickerchen zu verbringen. Er begann, „The Blade Itself“ zu schreiben. Es dauerte fünf Jahre, bis er den Trilogieauftakt von „The First Law“ fertiggestellt, an den Verlag Gollancz verkauft und veröffentlicht hatte. Beim zweiten Band „Before They Are Hanged“ ging das alles deutlich schneller: Dieser erschien 2007, nicht einmal ein Jahr nach dem ersten Band.

Niemand war darauf vorbereitet, dass Ghurkul und der vereinte Norden unter König Bethod gleichzeitig angreifen würden. Nun befindet sich die Union in einem Zweifrontenkrieg und droht, zwischen Hammer und Amboss zermalmt zu werden.
In Dagoska versucht Inquisitor Sand dan Glokta, die Wurzeln einer Konspiration freizulegen, die die Grenzstadt an Ghurkul auszuliefern plant. Das darf auf keinen Fall geschehen – er weiß aus eigener Erfahrung, wie herzlich die Gastfreundschaft des Imperators ist. Leider kommt er zu spät. Plötzlich ruht die Verteidigung der Stadt auf seinen verkrüppelten Schultern und der Einzige, dem er trauen kann, ist er selbst.
In Angland kämpft Major West nicht nur gegen Bethods vorrückende Truppen, sondern auch gegen Inkompetenz und Narzissmus in der Unionsarmee. Nur, wenn es ihm gelingt, das lähmende Gift in den eigenen Reihen zu neutralisieren, kann er seine Heimat davor bewahren, von den Barbaren des Nordens überrannt zu werden.
Doch das Schicksal des Weltenkreises entscheidet sich weder in Dagoska noch in Angland. Denn weit entfernt sucht eine kleine Gruppe Reisender nach einer furchtbaren Waffe, die die einzige Hoffnung der Union sein könnte …

Ah, die Freuden eines Rereads. Nach der Lektüre von „Before They Are Hanged“ muss ich mir ein weiteres Mal zu der Entscheidung gratulieren, die „The First Law“-Trilogie von Joe Abercrombie noch einmal zu lesen. Es ist so viel Zeit vergangen, seit ich diese hochbrisante Geschichte das erste Mal kennenlernen durfte. Ich habe mich weiterentwickelt und Unmengen an Erfahrung mit High Fantasy gesammelt. Jahre später kann ich den Dreiteiler deshalb viel besser wertschätzen, als ich es damals bei meinem ersten Besuch konnte. Mit all dem Hintergrundwissen zu Motiven, Strukturen und Ursprüngen des Genres kann ich heute erkennen, warum „Before They Are Hanged“ und die gesamte Trilogie so viele Leser_innen zu Begeisterungsstürmen inspirierten und wieso sie als „anders“, frisch und originell wahrgenommen wurden. Auch für mich ist der zweite Band der Inbegriff moderner High Fantasy, weil Joe Abercrombie darin ganz bewusst mit den Mechanismen spielt, die wir aus Klassikern wie „Der Herr der Ringe“ zur Genüge kennen.

Beispielsweise nimmt er das traditionelle Leitmotiv der Quest und dreht es kurzerhand auf links. Nachdem er uns die Mitglieder von Bayaz‘ unkonventioneller Reisegruppe im ersten Band vorstellte, schickt er sie in „Before They Are Hanged“ ans Ende der Welt, um ein enorm potentes und gefährliches Artefakt sicherzustellen. So weit, so gewöhnlich. Nicht so gewöhnlich ist einerseits der Verlauf dieser Mission und andererseits die Dynamik, die sich zwischen den Figuren entfaltet. Auf den ersten Blick wirken Logen, Bayaz, Jezal und Ferro wie eine typische Rollenspielbesetzung: Tank, Magier, Paladin und Bogenschützin. Mit dieser Zusammensetzung und der Rahmenhandlung der Quest verknüpfen Leser_innen wie ich bestimmte Erwartungen. Wir sollen glauben, dass wir es mit einer Truppe zu tun haben, die sich anfangs kaum kennt, doch bald in schönster Harmonie Ringelpiez mit Anfassen tanzen wird und füreinander zu sterben bereit ist.

Aufgrund dieser gezielt forcierten Erwartungshaltung wiegt die sich langsam einschleichende Erkenntnis, dass Joe Abercrombie für „Before They Are Hanged“ keineswegs eine eingeschworene Gemeinschaft vorschwebte, umso schwerer. Diese Abenteurer_innen sind keine Neuauflage der neun Gefährten. Sie alle wurden mehr oder weniger dazu gezwungen, Bayaz zu begleiten. Weder kennen sie den wahren Grund für die Quest noch können sie einander besonders gut leiden. Zwischen ihnen herrschen Misstrauen und Feindseligkeit, was angesichts ihrer Umstände, Biografien und Persönlichkeiten wesentlich realistischer ist als unvermittelt einsetzende Seelenverwandtschaft.

Die aggressiven Spannungen zwischen ihnen stellen ihren Status als Held_innen der Geschichte in Frage. Damit bringt Joe Abercrombie seine Leser_innen mächtig ins Straucheln, denn er bietet in „Before They Are Hanged“ keinen moralischen Anker zur Orientierung an. Ich habe selbst beobachtet, dass ich versuchte, zumindest eine Figur vorbehaltlos als „gut“ zu kategorisieren und ihrer Integrität zu vertrauen, weil ich daran gewöhnt bin, eindeutige Rollen zuzuschreiben. Abercrombie lässt das nicht zu. All seine Charaktere sind ambivalent, zerrissen, fehlerbehaftet – und wirklichkeitsnah. Klischees und Stereotypen setzt er nur ein, um sie anschließend in Frage zu stellen. Nicht einmal Major West, den ich so gern auf ein Podest der Rechtschaffenheit gestellt hätte, kann diesem Anspruch gerecht werden. Und Glokta … Nun, Glokta ist eben Glokta.

Ich glaube, dass Joe Abercrombie in „Before They Are Hanged“ absichtlich darauf verzichtet, Idole zu inszenieren, um seinen Leser_innen stattdessen komplexe Identifikationsmöglichkeiten zu präsentieren. Aus „Ich wäre so gern wie Held_in XY“ früherer High Fantasy – Epen wird „Held_in XY ist genauso fehlbar wie ich“. Meiner Meinung nach beantwortet er damit ein intuitives Bedürfnis, das jahrzehntelang unbefriedigt blieb: Die tiefsitzende Sehnsucht nach literarischen Figuren, die genauso sind wie du oder ich.

Deshalb empfinde ich „Before They Are Hanged“ als Revolution des verstaubten Status Quo, der die High Fantasy zu lange hemmte. Der zweite Band der „The First Law“-Trilogie lehnt Idealisierungen ab, setzt auf hyperrealistische Schilderungen und schloss eine Lücke, die das Genre daran hinderte, sich weiterzuentwickeln. Dadurch hat Joe Abercrombie entscheidend dazu beigetragen, dass die High Fantasy in den letzten Jahren ein Revival erlebt. Ich bin ihm unendlich dankbar, dass er den Mut aufbrachte, vormals in Stein gemeißelte Konzepte Stück für Stück abzutragen. Denn damit festigte er nicht nur in mir die Liebe für fantastische Literatur, sondern auch in vielen anderen Leser_innen.