Rezension

Die Stimmen aus den Trümmern

Die Gesichter der Wahrheit - Donal Ryan

Die Gesichter der Wahrheit
von Donal Ryan

"Mein Vater lebt immer noch die Straße runter und am Wehr vorbei in dem Häuschen, in dem ich aufgewachsen bin. Ich gehe jeden Tag hin, um zu sehen, ob er tot ist, und jeden Tag enttäuscht er mich." 

Ich bin eine Anhängerin Reich-Ranickis erster Satz Theorie, aus dem nach der Übersetzung dann auch gerne zwei Sätzen werden dürfen, und diese fulminanten messerscharfen ersten 2 Sätze in Donal Ryans Roman Die Gesichter der Wahrheit gibt mir doch nun wirklich Recht :-) 

21 innere Monologe, die gehört werden sollten. 21 Offenbarungen, die die Augen öffnen. 21 Geschichten, die auch unsere ein könnten. Ryan versammelt Menschen, die ihr Inneres offen legen, ihre geplatzten Träume, ihre schlimmsten Ängste, ihre größten Niederlagen. Sie erzählen von Scham, Wut und Trauer, aber auch von Freude, Glück und immer wieder von Liebe. Ihre Beichten sind von so berührender Ehrlichkeit und Weisheit, uns bleibt nur mit angehaltenem Atem zu lauschen, wie das Leben so spielen kann. 

In Ryans Debut ist die internationale Finanzkrise im ländlichen Irland angekommen. Der größte, örtliche Arbeitgeber, ein Bauunternehmen, ist pleite. Der junge Inhaber Pokey Burke aber, ganz moderner Ire und Europäer, hat sein Land verlassen und ist vor Regressforderungen ins Ausland geflohen. Er hinterlässt eine Gemeinschaft im Schockzustand. Leben liegen in Trümmern. Der Traum vom Wohlstand für alle, der dem Versprechen auf ein "immer weiter so" und "immer mehr" geschuldet ist, ist geplatzt und hinterlässt auch in der irischen Provinz Menschen, die auf ihr Inneres zurück geworfen werden. 

Menschen wie den Vorarbeiter Bobby, der einstige Sonnyboy der Kleinstadt, dessen sadistischer Vater, „ Ich habe immer nur Gegenständen Gewalt angetan. Menschen konnte ich nur mit Worten verletzen. Ich habe jahrelang geübt, bis es für mich so selbstverständlich war wie das Atmen.“, die Seele seines Sohnes schon früh mundtot gemacht hat. "Warum finde ich keine Worte?" weder für seinen Hass auf seinen Vater, noch für seine große Liebe zu seiner Frau. 

Arbeiter, deren Betriebsrente und Arbeitslosenbeiträge nicht bezahlt worden, die eben noch meinten zur neuen Mittelschicht zu gehören, ernten gerade noch Mitleid beim Amt. Pokeys Vater, der einstige stolze Unternehmensgründer, schweigt vor Scham und Schuld über diesen Sohn. 

Verhöhnendes Zeugnis, das letzte Bauprojekt, ein Wohngebiet für den Mittelstand, ist nur halb fertiggestellt aufgelassen worden. Die einzige Bewohnerin, die allein erziehende Mutter Réaltin, deren ständige Angst vor dem Platzen ihrer Hypothek, wie ein Damoklesschwert über ihrem Schicksal schwebt, das schon die Köpfe des halben Landes aus ihren Heimen geschlagen hat. 

Für sie alle gilt: 

„Man verliert sich irgendwie sehr schnell, wenn sich alles um einen herum verändert und sich auf einmal herausstellt, dass Dinge, von denen man dachte, sie würden einem für immer bleiben, einem nie gehört haben, und dass Dinge, die man für die Zukunft sicher geglaubt hatte, plötzlich hinter einem großen, dunklen Berg verschwunden sind, den ich wohl niemals überwinden werde.“ 

Die in der irischen Gegenwartsliteratur der 90er neu entdeckten Motive der Gewalt, der dysfunktionalen Familie , der Hoffnungslosigkeit einer ganzen Generation werden hier ausgelöst durch die Auswirkung der Finanzblase und Rezession der 2000er neu erzählt. 

Ryan tritt damit in die großen Fußstapfen der Irischen Erzähler der Roddy Doyle Generation, die den Umbruch, ein Land im Übergang beschrieben, in dem die alten Strukturen, die erdrückende Macht der katholischen Kirche und ihre reaktionären Moralgesetze, zu zerbröckeln begannen. Er gibt den vielen Menschen, die an den neuen machtvollen Gott Kapitalismus geglaubt haben, und dann schnöde von seinem Wankelmut vor die Tür gesetzt wurden, eine Stimme. 

Für mich ein virtuoses Debut, dessen erzählerischen Sog man sich nur schwer entziehen kann. Dem Autor gelingt es auf wunderbare Weise den Nachhall des Äußeren im Inneren in Worte zu fassen. Jeder einzelne Monolog konfrontiert den Leser nicht nur mit dem Selbstblick auf das Seelenleben eines Dorfbewohners, sondern lässt uns auch die anderen Erzähler immer wieder aus einer neuen Perspektive sehen.