Rezension

Die Wendejahre aus fast 20 Perspektiven

Schöne Seelen und Komplizen - Julia Schoch

Schöne Seelen und Komplizen
von Julia Schoch

Bewertet mit 2 Sternen

Kurz vor der Wende trifft sich die 10. Klasse eines Potsdamer Gymnasiums, um gemeinsam ein Theaterstück einzuüben, das später doch nicht zustande kommen wird. Auf die Jungen der Klasse ist der Druck spürbar, sich für drei Jahre zur Volksarmee zu verpflichten, falls sie danach Wert auf einen Studienplatz legen. Jeder weiß, dass es sich um keine freie Entscheidung handelt. Eine Klassenreise führt in den Ferien nach Poznán zum Arbeitseinsatz in einer Marmeladenfabrik. Die Sommerferien werden zum Wendepunkt, nach dem nichts mehr so sein wird wie gewohnt. Der Übergang zum Ostdeutschland nach der Wende verläuft im Text beinahe unmerklich. Plötzlich zieht es alle zur Mauer und in den Westen. Ein Schüler stellt fest, dass die Hälfte seines Freundeskreises inzwischen im Westen lebt. Franziska als ehemaliges Kaderkind wird von den Eltern allein zurückgelassen und beharrt darauf, die Geflüchteten wären in den Westen entführt worden. Lydia und Steffi lassen sich wie betäubt mitten in den neugierigen Massen durch West-Berliner Kaufhäuser treiben. Franziska shoppt mit Verwandten in Hamburg und kann sich mit ihnen weder über Pferde noch über Pauschalurlaube unterhalten. Alexanders Vater wird in der Psychiatrie behandelt, seit er seine Stasi-Akte gelesen hat. Die Erwachsenen reden sich angestrengt Normalität ein und malen zugleich kommende Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot an die Wand. Plötzlich gibt es in allen Familien gravierende Konflikte zwischen Eltern und Kindern, die sich um Konsum, den schönen Schein und Feindbilder aus dem Kalten Krieg drehen. Erst 30 Jahre später treffen wir einige der Beteiligten wieder, unmittelbar nach den Anschlägen von Paris.

Die Lücken zwischen den Statements von rund 20 Schülern müssen vom Leser mit eigenem historischem Wissen über die Ereignisse gefüllt werden. Durch die multiperspektivische Darstellung bleibt vieles aus der Zeit vor der Wende offen, das ich gern genauer gewusst hätte, um die Beziehungen zwischen Eltern und Jugendlichen, Lehrern und Schülern besser nachvollziehen zu können. Fast 20 Icherzähler waren mir hier zu viel, weil die Figuren m. A. zu wenig Konturen erhalten und nicht alle Schüler miteinander agieren. Das sprachliche Zeugnis der Wendejahre im leicht verfremdeten Potsdam lohnt sich zu lesen – vorausgesetzt man mag Multiperspektivität.