Rezension

Distanziert und doch bewegend

Und ich war da -

Und ich war da
von Martin Beyer

Bewertet mit 4 Sternen

Der nicht kontrollierbare Erinnerungshund

„Wenn es nach der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, hätte ich längst tot sein müssen, aber manche Rechnungen sind zwar richtig durchgeführt, also in einem mathematischen Sinne korrekt, das Ergebnis ist dennoch bedeutungslos.“

Inhalt

Der junge August Unterseher, ist ein einfacher Mensch, der sich in seiner Zeit sehr unwohl fühlt, nicht nur weil Gleichaltrige immer politisch aktiver werden und sich direkt positionieren, sondern auch weil sein Elternhaus mit einem zu Gewaltausbrüchen neigendem Vater, der gerne Prügel verteilt und einem Bruder, der bei der Hitlerjugend Karriere macht, ihm keinerlei Rückhalt schenkt. August will zunächst nur seinen Frieden, merkt aber verstärkt, dass ihm das nicht gelingen wird, weil er für nichts und niemanden Partei ergreift.

Seine Unentschlossenheit bringt ihm in erster Linie Häme oder Unglück – während ihn die einen verachten, weil er nicht voller Begeisterung für den Führer und dessen Maxime ist, bemitleiden ihn die anderen, weil er es nicht fertig bringt, sich gegen dieses menschenverachtende System zu stellen und aktiv an der Gegenbewegung teilzunehmen. August verrät seine Freunde, die er immer in letzter Minute sitzenlässt, bevor die Falle zuschnappt und er zieht notgedrungen in einen Krieg, dessen Unheil ihm bewusst ist, der ihn aber irgendwie durch die kommenden Jahre trägt. Das einzige, was August rückblickend feststellen kann, ist die Tatsache, dass er zwar da gewesen ist, sich aber niemals anwesend fühlte. Irgendwie hat er gehofft, dass seine zahlreichen Begegnungen mit dem Tod, ihn eines Tages selbst überwältigen würden, dass er nun der nächste sein würde, der jung stirbt, doch als dies nicht geschieht, erkennt er, dass seine Rechnung mit Abwarten und Aussitzen nicht aufgehen wird …

Meinung

Dies ist die einfache, gut nachvollziehbare und in ihrer Sanftmut und Ehrlichkeit bedrückende Geschichte über einen klassischen Mitläufer, der weder Entscheidungen für oder gegen etwas treffen konnte und stets mit körperlicher Anwesenheit glänzte, aber niemals mit seinen Taten. Und er erzählt seine Geschichte selbst, die dadurch sehr persönlich wirkt, auch wenn sie in einer distanziert-sachlichen Sprache verfasst wurde. Der Autor Martin Beyer, Jahrgang 1976 entwirft hier das Porträt eines einfachen Menschen, der durchaus in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, dem es aber an Rückgrat und Mut fehlt.

All seine Handlungen entbehren jeglicher Motivation. Er tötet andere ohne Mitleid, es ist sein Auftrag zu schießen, also führt er ihn aus. Er hilft seinen Freunden aus der Patsche, verliert sie aber auch schnell aus den Augen und bedauert ihr unglückliches Schicksal ohne innere Beteiligung. Sogar als er selbst angeschossen wird, schließt er schnell seinen Frieden mit der Situation, ist sich sicher, dass alles was passiert, seine Richtigkeit hat und das es nicht lohnt, sich für das Leben oder den Tod zu entscheiden.

Sprachlich wirkt der Text durchgängig neutral, Emotionen haben vordergründig wenig Platz in diesem fiktiven Roman, der dennoch literarisch ansprechend umgesetzt wurde. Als Leser kann man sich kaum mit den handelnden Figuren identifizieren, sie scheinen aus einer weit zurückliegenden Zeit zu stammen. Diese mangelnde Identifikationsmöglichkeit wirkt aber ausgesprochen passend, in Anbetracht des Charakters des Protagonisten. Jemand, der selbst keine innere Motivation verspürt, kann andere auch nicht für sich begeistern, weder seine Zeitgenossen noch den geneigten Leser aus der Gegenwart. Deshalb empfand ich die Umsetzung gelungen, sie ergibt ein schlüssiges, glaubwürdiges Gesamtpaket.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für gute Unterhaltungsliteratur mit Ansprüchen, die erst auf den zweiten Blick wirken. Der Roman animiert zum Nachdenken, er stellt viele Weichen und zeigt mögliche Wege auf. Ebenso ernüchternd lässt er einen Menschen dastehen, der zum Täter wurde, zum Opfer gleichermaßen und nichts gefunden hat, was für ihn Bestand haben könnte. Gerade diese psychologische Komponente des Romans hat mir besonders gut gefallen, sie lässt verschiedene Spielräume für Interpretationen. Sie stellt auch die alles entscheidende Frage in den Raum, ob es genügt anwesend und da zu sein, oder ob Schuld erst entsteht, wenn man auch innerlich beteiligt ist. Je länger ich über diesen Sachverhalt nachdenke, desto mehr Wirkung entfaltet der Text. Dieses Buch ist eine ausgezeichnete Lektüre für Diskussionsrunden, Lesekreise und weiterführende Literatur über die Thematik des Mitläufertums. Sie könnte der Anfang einer ganzen Reihe von Überlegungen sein und das schafft längst nicht jedes Buch.