Rezension

Ehe und Mutterschaft in der französischen Arbeiterschicht

Die Freiheit einer Frau -

Die Freiheit einer Frau
von Edouard Louis

Bewertet mit 4 Sternen

Édouard Louis Mutter hatte mit 19 Jahren bereits ihr zweites Kind zur Welt gebracht; die Familie lebte in einfachsten Verhältnissen. Erst als Louis als Schüler nach Amiens zieht, später zum Studium nach Paris und sich damit auseinandersetzt, wer er selbst ist, kann er seine Mutter als Individuum wahrnehmen, als Frau, die vor seiner Geburt einmal glücklich gewesen sein muss. Ein frühes verwischtes Selbstporträt zeigt seine Mutter als junge Frau. Er erkennt erst in diesem Foto, dass seine Mutter später nicht mehr glücklich gewesen sein kann. Weil sie Kinder hatte, harrte sie bei ihren gewalttätigen Partnern aus. Ihre Normalität waren toxische Beziehungen, die sich unmittelbar in den Partnerschaften ihrer Kinder fortsetzten. Von einem Stiefvater aus der Arbeiterschicht adoptiert, war Monique stets stolz darauf, dass sie aus der Stadt stammte und sich besser ausdrücken konnte als die Leute zwischen denen sie bis in ihre 40er Jahre lebte. Ihre gefühlte Überlegenheit schützte sie jedoch nicht vor zwei Ehen mit gewalttägigen Partnern, in denen sie Mann und Kindern den Haushalt führte und nicht als Person wahrgenommen wurde. Die Metamorphosen von Mutter und Sohn wirken in Louis Text eng miteinander verknüpft, auch wenn der Sohn offenbar wenig Erinnerungen an Erlebnisse mit ihr in früher Kindheit hat. Louis gelebte Homosexualität und seine Wahrnehmung der Mutter als Individuum werden erst möglich, als er seine Familie verlässt. Dass Louis sich als Erwachsener für seine Mutter schämt und ihre Ausdrucksweise zu verbessern sucht, wirkt wie eine späte Rache an einer trostlosen Kindheit und lässt den Autor als Bildungsaufsteiger nicht gerade sympathisch wirken.

Louis kurze Biografie richtet sich u. a. in der Du-Form direkt an seine Mutter. Mir bleibt daraus besonders das Fehlen/Verdrängen der frühen Mutter-Kind-Beziehung in Erinnerung und die Erkenntnis des Autors,  dass in seiner Jugend ein Gespräch mit seiner Mutter über seine Homosexualität möglich gewesen wäre. Mutter und Sohn vermieden es beide …