Rezension

Ein außergewöhnlich komplexer Roman

Nil -

Nil
von Anna Baar

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt: Eine Schriftstellerin schreibt eine Fortsetzungsgeschichte für ein Frauenmagazin. Diese Geschichte soll, so der Chefredakteur, nun enden. Das Schreiben des Schlussteils gestaltet sich aber schwierig. Außerdem findet sich die Schriftstellerin jetzt in einem Verhörraum wieder. Sie wird beschuldigt, eine Person verschwinden lassen zu haben. Doch sie weiß nicht, um wen es sich handeln soll.

Persönliche Meinung: Der kurze Inhaltsteaser von mir ist eigentlich zu mager und wird dem Inhalt von „Nil“ nicht gerecht. Dieser dreht sich insgesamt um die Vermengung von Wirklichkeit und Fiktion, wobei auf einer Metaebene eine reflexive Betrachtung derjenigen gedanklichen Prozesse stattfindet, die den Schreibprozess begleiten. Mehr möchte ich allerdings zum Inhalt nicht sagen, um die Wirkung, die "Nil" beim erstmaligen Lesen ausstrahlt, nicht zu schmälern. Generell bleibe ich daher im Folgenden inhaltlich vage und hoffe, dass die Perspektiven erzählt werden. Die Erzählinstanz des ersten Abschnittes ist eine namenlose Ich-Erzählerin. Dabei macht es die Erzählerin den Leser*innen nicht leicht. Dies liegt allerdings weniger an einer hochtrabenden Wortwahl oder einem verklausulierten Satzbau. Im Gegenteil: Wortwahl und Satzbau sind pointiert und besitzen eine außergewöhnliche Klarheit. Schwierig macht es die Erzählerin dadurch, wie sie erzählt. Assoziativ, dem Modus des Erinnerungsprozesses folgend, wechselt und springt sie zwischen – scheinbar – unzusammenhängenden Szenen; sie vermeidet eine Erzeugung von Kohärenz und verweigert so etwaige Hilfestellungen für die Leser*innen. Dadurch setzt ein schöner Effekt beim Lesen ein: Man beginnt, der glasklaren Wortwahl zum Trotz, einzelne Sätze nochmals zu lesen, klopft sie nach einer geheimen Bedeutung ab, versucht selbst Sinn zu erzeugen und: scheitert - aber nur zunächst. Denn: Im zweiten Abschnitt, der aus einer anderen Perspektive erzählt wird, setzen Déjà-vu-Erlebnisse bei den Leser*innen ein. Auch wenn die Handlung des zweiten Abschnittes auf den ersten Blick wenig mit dem ersten Abschnitt zu tun hat, finden sich immer wieder Figuren, Objekte und Wörterfolgen, die auf den ersten Abschnitt verweisen, wodurch ein struktureller und inhaltlicher Zusammenhang erzeugt wird. Auch dies beeinflusst den Leseprozess: Man erinnert sich, blättert zurück, liest sich in vorherige Abschnitte wieder ein, sucht die Referenzstelle, versucht zu verstehen. Diese Déjà-vus setzen sich in den folgenden Abschnitten fort, sodass sukzessiv, in kleinen Schritten, wird Sinn erzeugt wird. Das große Ganze offenbart sich erst auf den letzten Seiten. Allerdings gilt auch hier: Nicht alle Zusammenhänge werden vollends geklärt, sodass ein Interpretationsspielraum offen bleibt. Insgesamt ist "Nil" ein anspruchsvoller und komplexer Roman mit deutlicher Wortwahl, dessen Erzählinstanzen es den Leser*innen schwierig machen. Darin liegt allerdings zugleich die Besonderheit und der Reiz des Romans: Die Leser*innen werden in die Pflicht genommen, sich eigenständig in dem Labyrinth aus Erzählfetzen zu orientieren.