Rezension

Ein besonderes, literarisches Leseerlebnis

Das Haus aus Stein - Asli Erdogan

Das Haus aus Stein
von Asli Erdogan

Bewertet mit 4 Sternen

Alle Straßen gehörten ihm, doch er ging nirgendwo hin

„Ich war in ein endloses, einziges Jetzt gepfercht, sein Stundenzeiger war abgefallen und sein Minutenzeiger drehte sich sinnlos im Kreis. Die Stunden waren blutig gepeitscht worden und vermochten ihre schwere Last nicht mehr zu tragen, keinen Schritt mehr vor und zurück zu tun, die Zeit nicht mehr von der Stelle zu bewegen.“

Inhalt

Wen es einmal in das Haus aus Stein verschlägt, der kommt nicht mehr zurück in die Welt der Unbedarften, der Optimisten, der Menschen, die nach jedem schlechten Tag einen neuen, besseren erwarten. Denn sämtliche Vorstellungen von einer Sinnhaftigkeit und einer tieferen Bedeutung des eigenen Lebens werden nach und nach ausgelöscht. Bei jedem, der die Mauern des Gefängnisses von innen gesehen hat und irgendwann die Mauern desselben Gebäudes von außen, gibt es keine Hoffnung mehr. Der Körper, die Hülle ist noch da, der Inhalt aber unwiederbringlich zerstört. Alles wird seltsam unbedeutend, Neuanfänge scheinen sinnlos und auch die Hoffnung wieder so zu werden, wie man einmal war, ist zwischen den grauen Mauern versickert …

Meinung

So klein und unscheinbar dieser Roman aus der Feder der türkischen Autorin Asli Erdoğan auch ist, so zentnerschwer und bedrückend wirkt sein Inhalt. Es ist ein tiefsinniger, umwälzender Roman, der weder gefallen möchte, noch restloses Verständnis erzwingt, vielmehr initiiert er weitreichende Gedankengänge des Lesers, der hier einen wunderbar anspruchsvollen, literarischen Text in den Händen hält, dem man sich aus diversen Perspektiven nähern kann.

 Die Bewältigung eines Gefängnisaufenthalts ist einerseits sehr generalistisch und nachvollziehbar beschrieben und greift doch, sobald man die Vorgeschichte der Autorin kennt und das Nachwort gelesen hat, ganz persönlich in das Leben der Beteiligten ein. Interessant auch der Aspekt der Schuld bzw. Nichtschuld der Gefangenen. Denn seltsamerweise kommt diese Erzählung ganz ohne die Begriffe des Rechts oder Unrechts aus.

 Es geht auch nicht darum, etwas zu erklären und es schönzureden, nein vielmehr konzentriert sich der Inhalt auf die Zersetzung des menschlichen Glaubens an irgendetwas, an einen Gott, an einen Menschen oder auch an das System – nur durch die Schilderung einer unbestimmten Abfolge der stets gleichen Sinnlosigkeit und Lethargie – begrenzt durch Mauern aus Stein.

 Dennoch wird deutlich, wie die Gefangenen behandelt werden, das Folter als eine der vielen grausamen menschlichen Methoden angewandt wird, um die Insassen zu brechen. Und letztlich zielt der Inhalt vor allem auf den Schaden ab, den die Seele erleidet, ganz egal, was der Körper aushalten kann oder nicht.

Für diesen Roman muss man sich Zeit nehmen, er zwingt dazu aufmerksam zu lesen, gerade weil er kein klassischer Unterhaltungsroman ist, sondern eher eine philosophische Auseinandersetzung mit der Thematik und außerdem entwirft er so zahlreiche sprachliche Bilder, dass man geradezu aufgefordert wird, den Text reflektierend zu betrachten. Auch ein mündlicher Austausch über das Gelesene bietet sich hier an und ich könnte mir gut vorstellen, eine derartige Lektüre in einem Lesekreis aufzugreifen und sie in der Gruppe zu besprechen.

Fazit

Ich vergebe hochachtungsvolle 4 Lesesterne, für diesen weder leichten noch herkömmlichen Text, der intensiv und reflektierend das Unausgesprochene benennt und die Emotionen des Lesers wachrüttelt. Der ungewöhnliche Aufbau und die Fähigkeit sowohl distanziert als auch betroffen zu wirken und dem Text durch Wiederholungen, Metaphern und Leerstellen eine derartige erzählerische Dichte zukommen zu lassen, hat mir ausgesprochen gut gefallen. Sicherlich kein Buch für jedermann und irgendwie auch sehr speziell. Doch wenn man etwas sucht, was so direkt nicht zu beschreiben ist, wenn man auf die Grundsätze des menschlichen Daseins zurückgeführt werden möchte, dann sollte man unbedingt zu diesem Buch greifen. Ein Roman, der nachhallt und das Prädikat „besonders“ verdient.