Rezension

Ein Blick in die Welt des William Gibson

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack - William Gibson

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
von William Gibson

Bewertet mit 4 Sternen

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack blickt hinter die Kulisse auf einen Architekten der Matrix, ohne allerdings eine beweihräuchernde Autobiographie zu sein. William Gibson stellt sich uns anhand diverser kurzer Texte vor, die er im Laufe eines Zeitraums von nun fast 30 Jahren verfasste; darunter befinden sich Artikel für Magazine wie „Rolling Stone“ oder „Wired“.

Die Abenddämmerung spiegelt sich in den Fenstern der Stadt und es wird langsam kühl. Finger erkunden das Innere der Jackentasche, werden fündig und drücken die Playtaste des Walkmans, so dass Joy Division der Atmosphäre des Moments einen passenden Soundtrack liefern können.
Anfang der 80er war es durch die breite Vermarktung des kleinen Kassettendecks endlich möglich, private Momente mit Musik zu untermalen. Für einen Musikliebhaber wie William Gibson ein ganz entscheidender Moment.

Die gute alte Zeit: Wie bei vielen Rückblicken kann man auch hier leicht sentimental werden, wenn man sich an den ehemaligen klobigen, aber treuen analogen Begleiter erinnert, der bei heutigen Jugendlichen wahrscheinlich nur ein gleichgültiges Schulterzucken verursachen würde.
Ein Vergleich zwischen Walkman und einem MP3-Player mag im Größen- und Gewichtsverhältnis etwa wirken wie ein Telefonbuch zu einer Briefmarke, aber der Grundstein, Musik zu jeder Zeit an jedem Ort hören zu können, war gelegt. Die Geräte wurden immer kleiner, vielseitiger und leistungsfähiger.
Jedes Smartphone besitzt heute sicher mehr Möglichkeiten, als ein gesamtes Rechenzentrum anno 1984.
Das Industriezeitalter ging damals fließend und fast unbemerkt ins Zeitalter der vernetzten Information und Unterhaltungselektronik über. Allerdings wurde der Beginn des schnörkellosen Digitalzeitalters von schrägen Tönen aus London und New York begleitet:
Punk und New Wave gingen mit der in der Werbung gezeigten schönen neuen Welt einher, der Protest war laut, bunt und begeisterte viele.
Gibsons Begeisterung für das kreative Druckventil personifiziert sich u.a. in der Figur Hollis Henry, Sängerin der Band „The Curfew“. (s. auch Rezension zu Systemneustart)

Mainstream und Gegenkultur wurden schließlich beide massenhaft auf ein neu erfundenes und einfach herzustellendes Medium, nämlich die CD gepresst. Die silberne Scheibe wirkte in jeder Hinsicht neu, war platzsparend und ließ sich prima als digitales Wunder vermarkten. Die Erde drehte sich nun scheinbar schneller.
Mitten in dieser Zeit beschließt William Gibson seinen ersten Roman zu schreiben, in dem gesellschaftlicher Wandel, allgegenwärtige Technik genauso eine Rolle spielen wie vorausschauende Ideen. Als Junge durch häufiges Lesen von klassischer Science Fiction sehr beeinflusst, muss sich der erwachsene Autor und Visionär William Gibson Anfang der 80er eigentlich nur aufmerksam in der Welt umsehen, um noch nie dagewesenes zu beschreiben:
Einige der damals aktuellen wissenschaftlichen Ideen und Forschungsprojekte musste er lediglich in den Möglichkeiten weiterspinnen und mit Konstruktionen seiner eigenen Phantasie kombinieren, um das Fundament für Neuromancer zu erschaffen.
An Innovationen mangelte es nicht, plötzlich war alles voller Neonlicht, grellen Farben und Computergrafiken, an allen Ecken und Enden war die Moderne da. Besser wurde es dadurch nicht unbedingt; zwischen den Zeilen hat William Gibson immer schon kritische Töne geäußert.

Der Kalte Krieg war damals das allgegenwärtige Erbe des Atomzeitalters, Star Wars war nicht nur Thema von Ronald Reagans Rüstungspolitik, sondern beherrschte auch die Kinoleinwand, während William Gibsons Vision einer nicht all zu weit entfernten Zukunft weit weniger bombastisch, dafür jedoch realistischer und daher auch bedrohlicher wirkte. Cyberpunk fasste sowohl technische Möglichkeiten, als auch das Versagen vergangener Generationen in einer glitzernden, aber kaputten Welt zusammen.

Was für ein Mensch ist William Gibson?
Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack blickt hinter die Kulisse auf einen Architekten der Matrix, ohne allerdings eine beweihräuchernde Autobiographie zu sein. William Gibson stellt sich uns anhand diverser kurzer Texte vor, die er im Laufe eines Zeitraums von nun fast 30 Jahren verfasste; darunter befinden sich Artikel für Magazine wie „Rolling Stone“ oder „Wired“.
Auch wenn die Kapitel recht unterschiedliche Themen behandeln, so sind sie doch alle unweigerlich mit der Person William Gibson verknüpft, so dass der Leser sowohl Teile seiner Biographie kennenlernt, aber auch interessante Ansichten zu Technik und Kultur, die teilweise fast schon tagebuchähnliche Züge tragen.

Liebe(r) LeserIn, bitte vertrauen Sie immer Ihrem eigenen Geschmack.
Ich hoffe jedoch, dass ich durch die kurze Beschreibung des Buches eben jenen anregen konnte.

Als ich übrigens vor einigen Jahren die Gelegenheit hatte, William Gibson in Köln zu treffen, ließ ich mir selbstverständlich auch einige Bücher von ihm signieren: Seine Unterschrift in Blockbuchstaben ist gut lesbar und schnörkellos wie ein japanisches Hiragana, sauber geschrieben – ein passendes Symbol für sein bisheriges Schaffen.

PS: Das im Sommer 2012 erschienene Some Remarks von Neal Stephenson ist übrigens ebenfalls eine Textsammlung von Kurzgeschichten, Artikeln und Fragmenten und beantwortet phantasievoll die Frage eines Lesers, wer wohl einen Zweikampf zwischen den beiden befreundeten Autoren gewinnen würde.
Absolute Leseempfehlung, allerdings leider (noch) nicht auf Deutsch erschienen.

Originaltitel: Distrust that Particular Flavor
Übersetzer: Hannes und Sara Riffel