Rezension

Ein Cold Case aus Berlins 30ern

Das Verschwinden des Dr. Mühe - Oliver Hilmes

Das Verschwinden des Dr. Mühe
von Oliver Hilmes

Bewertet mit 4.5 Sternen

Dr. Erich Mühe verließ seine Wohnung mitten in der Nacht. Für einen Hausarzt, der auch nachts zu Patienten gerufen wurde, war das im Berlin des Jahres 1932 nicht ungewöhnlich. Mühe und sein Pkw werden später noch einmal am Sacrower See gesehen. Danach bleibt der Mann verschwunden, im Umkreis des Sees wird jedoch keine Leiche gefunden. Mühes Auto verschwindet einen Tag später, sein Konto ist leer. Der ermittelnde Kommissar Ernst Keller sieht sich mit einem im Beruf angesehenen Vermissten konfrontiert, über den er zunächst wenig erfährt und über dessen ungewöhnlich geschäftsmäßig wirkende Ehe viel getratscht wurde. Mühe hat offenbar fleißig gearbeitet und so gut verdient, dass er seinen Pkw bar bezahlen konnte. Seine Praxis betrieb der Arzt in einer großen Altberliner Wohnung, in der er mit Frau Charlotte und deren Jugendfreundin als Untermieterin auch wohnte. In den 20ern und 30ern des vorigen Jahrhunderts war eine Nutzung wie diese nicht ungewöhnlich.

Übersichtlich wie in einer Ermittlungsakte führt Oliver Hilmes eine Vielzahl von Zeugenaussagen auf, jede mit Angabe des Datums, des Namens, der Funktion oder Beziehung, in der die Person Erich Mühe traf. Die Angabe des Datums zieht die Aufmerksamkeit der Leser auf den Zeitverlauf, der eine wichtige Rolle in diesem Fall spielt. Keller ermittelt über einen ungewöhnlich langen Zeitraum, steht wiederholt neuen Zeugen gegenüber, die immer neue Versionen liefern, was am Abend vor Mühes Verschwinden geschehen sein soll. Enge Bezugspersonen widersprechen sich dabei in ihren Aussagen. Zur entscheidenden Frage wird, ob Mühe noch am Leben sein und sich ins Ausland abgesetzt haben könnte. Als 1935 Wolf-Heinrich von Helldorff Berliner Polizeipräsident wird, steigt - aus politischen Gründen - der Druck auf Keller, den Fall Mühe endlich abzuschließen.

Mit dem Fall Mühe nimmt Oliver Hilmes einen realen Cold Case auf, auf den er bei früheren Recherchen stieß. In Romanform wirkt der Stoff mit seinen zahlreichen Namen, Zahlen und Fakten sehr kühl und sachlich. Mir hat diese Form gefallen, die erstaunlich viel über jede einzelne Figur vermittelt. Da dem Ermittler keine anderen Informationen als die Zeugenaussagen zur Verfügung stehen, muss man sich als Leser mit einem Verschwundenen abfinden, der aus gutem Grund wenig von sich preisgab, auch wenn ihn als Arzt und Mieter in einem großen Berliner Mietshaus viele Menschen kannten. Vor einem sorgfältig recherchierten historischen Hintergrund regt Hilmes sehr sachlich gehaltener Roman doch an, über die Situation Hinterbliebener nachzudenken, die mit dem ungeklärten Schicksal eines Angehörigen lange Zeit nicht abschließen können.