Rezension

ein Generationenroman über das Auseinanderdriften einer ganzen Familie und den Verlust ihrer Heimat

Die Kunst zu verlieren - Alice Zeniter

Die Kunst zu verlieren
von Alice Zeniter

Bewertet mit 5 Sternen

Dass verschiedene Generationen kaum noch Berührungspunkte zu haben scheinen, ist heutzutage ja leider schon recht normal geworden. Wie ist es dann allerdings, wenn es nicht nur die fehlenden gemeinsamen Interessen betrifft, sondern schon an der Sprache und Nähe hapert? Alice Zeniters Roman "Die Kunst zu verlieren" setzt genau dort an, bzw. führt uns zunächst nach Algerien zu Naimas Großeltern Ali und Yema.

Nachdem Ali im Sturzbach eine Olivenpresse findet, kommt alles wie von allein und er, seine Brüder, seine Verwandten und Freunde sind angesehene Menschen im Dorf. Doch dieser Erfolg sollte nicht ewig bestehen. Der algerische Unabhängigkeitskrieg macht sich selbst in dem abgelegenen Dorf hinter den Gebirgskämmen bemerkbar. Unruhen, Auseinandersetzungen, einmarschierende Truppen der FLN, der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, halten seine Familie und die Bewohner auf Trab. Als Ali dann bei der französischen Armee um Schutz bittet, wird er von den nationalen Befreiern als sogenannter 'Harki' abgestempelt und muss nun nicht nur um seinen Hof, sondern auch um Yema und seine drei Kinder Hamid, Kader und Dalila bangen. Er will sie retten. Er will sich retten und so gibt es auch nur eine Möglichkeit - die Flucht nach Frankreich.

In Frankreich folgen weitere Auseinandersetzungen. Die Familie verbringt gut 2 Jahre in einem Auffanglager in Jouques bis ihnen endlich eine kleine Wohnung zuteil wird. Die Kinder besuchen eine französische Schule und mit der Sprache wächst dann nach und nach auch die Distanz zu ihren Eltern. Hamid wendet sich von allem ab, zieht nach Paris und will auch von der Vergangenheit nichts mehr wissen. "Li fat met" - Die Vergangenheit ist tot. In Paris gründet er dann etwas später mit Clarisse seine eigene Familie, aus der dann seine Tochter Naima hervorgeht und gerade sie ist es dann auch, die Fragen stellt...

Naima möchte mehr über ihre Vergangenheit, ihre Heimat und den familiären Ursprung erfahren. Doch Hamid will ihr dazu keine Auskünfte geben, denn schon alleine das Fluchtjahr bzw. Jahr ihrer Immigration 1962 lässt negative Rückschlüsse zu. Ali hat bereits das Zeitliche gesegnet und mit ihrer Großmutter Yema kann sie sich kaum verständigen. Als sie dann durch einen Zufall mit der Aufgabe betraut wird, die Bilder eines algerischen Künstlers zusammenzutragen, zögert sie. Wird sie die Reise in ihre Vergangenheit auf sich nehmen? Und wie wird man dort auf sie, die Verwandte eines Verräters, reagieren?

Ich glaube, ich habe mit "Die Kunst zu verlieren" bereits mein Jahreshighlight gefunden. Alice Zeniter schafft es, mich für ein Land zu interessieren, dessen Entwicklung ich, ehrlich gesagt, kaum auf dem Schirm hatte. Der Algerienkrieg, ein Krieg um die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich in der Zeit von 1954 bis 1962 gehörte bei mir nicht so wirklich zum damaligen Geschichtsunterricht (oder ich habe grade da nicht aufgepasst) und gerade in der Romanform beschäftigt man sich nicht einfach nur mit Daten und Zahlen, sondern hauptsächlich mit den Menschen, deren Erlebnissen und Beweggründen. Die Auswirkungen des bewaffneten Konflikts auf die Algerier und die Flucht der "Harkis", deren Aufnahme und Neubeginn in Frankreich und der damit einhergehenden Ungewolltheit, Angst, Verdrängung sowie Neugier und Suche späterer Generationen nach ihrer verlorenen Heimat hat Zeniter wirklich eindrucksvoll in ihrem Generationenroman verwoben. In Hinblick auf die Globalisierung, Migration und vorherrschenden Auseinandersetzungen in vielen südlichen Ländern, ist dieser Roman für mich hochaktuell. Die flüchtenden Menschen verlieren nicht nur ihr zuhause, sondern auch ihre Heimat, ihre Vergangenheit, ihr bisheriges Leben und auch wenn sich die Situation irgendwann wieder beruhigen wird und sie zurückkehren können, so wird es nie wieder das Gleiche sein. Auch zukünftige Generationen der Großfamilien werden nicht einfach so wieder zusammenfinden, zu groß ist die Distanz, sei es kulturell oder sprachlich gesehen. Dieses Auseinanderdriften einer Familie und die Auswirkungen auf die einzelnen Folgegenerationen spielt in diesem Roman eine sehr große Rolle und die Autorin schafft es auf eine sehr empathisch kluge und lebendige Art und Weise eben dieses aus den verschiedenen Perspektiven einzelner Familienmitglieder darzustellen. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Großeltern selbst "Harkis" waren und sie mit ihrem Roman somit auch einen Teil über sich erzählt. Vielleicht ist es auch nur Zufall und sie ist einfach eine Meisterin in der Erschaffung charakterstarker Protagonisten. Beinahe jede ihrer Figuren habe ich in gewisser Weise ins Herz geschlossen. Und so fiebert man mit und fragt sich, was alles passieren mag, wenn die Familie bereits auf den ersten Seiten dieses Romans mit den Bedrohungen des Krieges konfrontiert wird. Genauso freut man sich auch über so Kleinigkeiten, sei es, dass Yema in Frankreich ohne jegliche Sprachkenntnisse einkaufen geht und sich einzig an den Bildern der Produkte orientiert und stolz auf sich ist oder als sich Ali überraschender Weise mit Mohand, einem Mann aus seinem Dorf, der Vergangenheit, in Paris trifft und sie somit irgendwie wieder zusammenfinden. Oder man erfährt einfach mehr über das doch so unbekannte Land, den Glauben und die Traditionen...

Zeniter gibt den Verdrängten Algeriens eine Stimme und das so bewegend, dass man diesen Roman und diese Familie einfach nur mögen kann. Ich würde gar sagen, wer "Das achte Leben (für Brilka)" von Nino Haratischwilli gelesen und gemocht hat, wird "Die Kunst zu verlieren" mindestens genauso lieben.