Rezension

Ein kaputtes System

Brooklyn Supreme -

Brooklyn Supreme
von Robert Reuland

Bewertet mit 4.5 Sternen

Police Officer Georgina Reed und ihr Partner Gordon Holtz wurden zu einem Raubüberfall auf einen kleinen Laden in Brooklyn gerufen. Der Kiez war einmal arm und schwarz, heute ist er arm und neuweiß. Reed glaubte, von einem der Täter mit einer Waffe bedroht zu werden und erschoss den 17jährigen Dewberry. Unter dem Toten wird zwar eine Waffe gefunden, von waffentechnischer Untersuchung oder Obduktion des Toten wird im weiteren Verlauf jedoch nicht die Rede sein. Die Polizistin ist dunkelhäutig, Berufsneuling und hat im Rudel der Cops durch ihre ehemalige Zugehörigkeit zur Navy den korrekten Hintergrund. Die ersten 24 Stunden nach dem Vorfall gehören Georgina und dem Vertrauensmann der Polizeigewerkschaft, Will Way. Das Gespräch ist vertraulich, die am Zwischenfall beteiligten Polizisten dürfen währenddessen von keiner anderen Instanz verhört werden. Der Icherzähler Will Way wirkt sachlich, dabei empathisch, aber auch deutlich resigniert im Wissen, dass er keine Antwort auf seine Fragen erhalten wird. Georgina Reed scheint ihm zu bemüht, ihn von ihrem Bericht zu überzeugen.

Die Öffentlichkeit weiß offenbar mehr über den Tatablauf als die Polizei und ergreift sofort Partei; die Leute haben die Nase voll von Straßenkriminalität wie von Polizeigewalt. Erste Demonstrationen werden organisiert. Dewberry hat ein seitenlanges Vorstrafenregister und war bereits wegen einer Straftat mit Todesfolge vorbestraft. Der Vorfall scheint den Niedergang des Stadtteils zu illustrieren, in dem doch wohl kein Jugendlicher gewagt hätte, sich der Verhaftung durch einen vierschrötigen Cop zu widersetzen. Doch wenn das Opfer weiß ist und die Schützin eine dunkelhäutige Polizistin, greifen hier gewohnte Klischees zu Polizeiwillkür und Korpsgeist nicht.

Will möchte Fakten hören, zur Waffe, zum Wortlaut der Alarmierung der Funkstreife; schließlich erinnert er Georgina daran, den erschossenen Jugendlichen nicht als Opfer zu bezeichnen, sondern als Angreifer. Ob der eilige Griff zur Dienstwaffe im Zusammenhang mit Ausbildungsmängeln stehen könnte, fragt sich Will nicht. Eine Respektsperson nach der anderen betritt die Bühne, Garrity, der Gewerkschafts-Chef, Staatsanwältin Jackie Kane, Richter Pomroy, und die Polizeireporterin scharrt bereits mit dem Fuß. Will Way kennt Pomroy seit seiner Kindheit und muss sich eingestehen, dass er in eine Schlangengrube geraten ist, in der es um diverse Karrieren und Mandate geht und Georgina ebenso wie er selbst die Bauernopfer sein werden. Seine Einschätzung, wer wen ins Messer laufen lassen wird, ändert sich von Gespräch zu Gespräch - und führt zu einer verblüffenden Entscheidung.

Die Handlung spielt 1999 in der Clinton-Ära. Nach einem Auftakt, in dem zunächst weniger ermittelt wird und stärker Beziehungen aufgedröselt werden, vollzieht die Handlung einen weiten Bogen zu Will Ways Jugend und der Frage, was ihn an den Platz des Gewerkschaftsmanns gebracht hat. Konflikte um Hautfarbe, Geschlecht, Religion, die Definition von Gerechtigkeit, sozialen Abstieg ganzer Stadtviertel, Einfluss der Presse, Korruption, politische Karrieren und persönlicher Schicksale wirken wie zu einem Dickicht miteinander verflochten.

Das hochinteressante Nachwort von William Boyle ordnet „Brooklyn Supreme“ als meisterhaften Brooklyn-Roman ein, der „die aufgeheizte Atmosphäre unüberwindbarer Rassen- und sozialen Schranken“ thematisiert. Durch die sehr ausführliche Vorgeschichte Will Ways empfinde ich den Roman weniger als Kriminalroman und stärker als Großstadtroman mit dem Ohr am Puls einer Millionenstadt im Niedergang.