Rezension

Ein Kinderbuch zum Thema Neurodiversität

Hat irgendjemand Oscar gesehen? -

Hat irgendjemand Oscar gesehen?
von Leslie Connor

Bewertet mit 3 Sternen

Aurora und Oscar sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich, und dennoch sind beide beste Freunde. Während Aurora impulsiv und energiegeladen ist, laut und viel redet, spricht Oscar nicht, ist sehr zurückgezogen und lebt in seiner eigenen Welt. Beide gehen in eine Klasse, und Aurora kümmert sich rührend und sehr fürsorglich um Oscar. Im neuen Schuljahr jedoch kommen beide in unterschiedliche 6. Klassen, und eines Tages ist Oscar plötzlich verschwunden. Der ganze Ort sucht fieberhaft nach ihm, allen voran Aurora.

Im Buch wird das nicht explizit erwähnt, aber es ist anzunehmen, dass Aurora ADHS hat und Oscar eine Form von Autismus. Die Idee, neurodiverse Protagonist/innen in den Mittelpunkt zu stellen, hat mir sehr gut gefallen. Auroras Charakterisierung finde ich sehr gelungen. Da ein wesentlicher Teil des Buches aus ihrer Perspektive erzählt wird, konnten mein Sohn und ich uns gut in sie hineinversetzen, und sie war uns auf Anhieb sympathisch. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist fürsorglich und offen. Etwas schade fanden wir, dass Oscar im Buch ein wenig kurz kommt, insbesondere auch seine Sicht der Dinge und seine Emotionen. Die Autorin erzählt im Buch aus verschiedenen Blickwinkeln, und es ist ein bisschen verwunderlich, dass ausgerechnet Oscar hier den geringsten Anteil hat. Hierdurch verschenkt das Buch leider etwas an Potential, das autistische Spektrum jungen Leser/innen begreiflich zu machen.

Generell ist die Thematik des Buches für jüngere Kinder, die das Buch alleine lesen und bisher noch keinen Kontakt zu neurodiversen Kindern hatten, nicht ganz einfach zu verstehen, gerade im Bezug auf Oscar. Mein Sohn und ich haben das Buch zusammen gelesen, und ich konnte ihm so vieles erklären. Auch aufgrund der komplexeren Erzählweise mit verschiedenen Rückblenden würde ich das Buch eher für etwas ältere Kinder ab 11 oder 12 Jahren empfehlen oder es entsprechend begleiten.

Etwas unrealistisch fand ich die idealisierte Heile-Welt-Darstellung, in der es quasi keine Konflikte gibt. Aurora eckt mit ihrer Art gelegentlich etwas an, aber im Grunde gibt es keine größeren zwischenmenschlichen Probleme, Oscar ist zwar meist für sich, er wird von den Mitschüler/innen aber auch nicht getriezt. In der Realität wäre das vermutlich leider nicht ganz so schön. Nun kann man das Buch als Beispiel einer Welt ansehen, wie sie sein sollte, in der neurodiverse Kinder ganz selbstverständlich dazugehören. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass Kinder, die selbst betroffen sind, und in ihrem Leben auf weniger verständnisvolle Mitmenschen treffen, ernüchtert sind, wenn ihnen das Buch nur ein Ideal zeigt. Hier hätte es ermutigend wirken können, wenn Konflikte und Lösungsansätze thematisiert worden wären.