Rezension

Ein Kraft spendendes, achdenkliches machendes Buch

Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen - Paolo Cognetti

Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen
von Paolo Cognetti

Bewertet mit 5 Sternen

"Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen", lautet der Titel von Paolo Cognetti. Es ist das zweite Buch von ihm, dass ich nun in den Händen halte. Schon im ersten Band "Acht Berge", einem Roman mit autobiografischen Zügen, sind die Themen Stille, Ausdauer, Maßhalten, Muße und Freundschaft auch die jeweiligen Protagonisten.
Hier nun gönnt sich der Autor eine Wanderung im Dolpo zum vierzigsten Geburtstag. Es ist ebenfalls der vierzigste Jahrestag der Wanderung beziehungsweise dem Buch von Peter Matthiessen "Auf der Spur des Schneeleoparden". Auch er wanderte im Dolpo, wo nun Cognetti mit Freunden, Trägern, Koch samt Maultieren und zugelaufenem Hund mehrere Wochen verbringen. Dabei ist der Weg das Ziel, nicht das Erklimmen eines hohen Berges. Dolpo liegt in Nepal, an der Grenze zu China, die Wanderroute abseits der üblichen Touristenpfade. Alles wird mitgenommen, bis auf Wasser. So muss der Führer jeden Abend einen entsprechenden Rastplatz in der Nähe des kostbaren Gutes finden.
Es ist ein kleines, feines Buch, das Platz in der Handtasche und sogar in großen Manteltaschen findet. Mit haptischer Oberfläche ist der Umschlag gestaltet, ein Lesebändchen ersetzt meine sonstigen Notlösungen als Lesezeichen, die ich immer vergesse mitzunehmen. Kleine Zeichnungen in Grau/Weiß geben eine rudimentäre Ahnung von Landkarten und Begebenheiten ab.
Mehrere Wochen sind die Reisegefährten unterwegs, immer höher liegen die Pfade, nur selten begegnen sie Menschen, finden sich Dörfer oder Ansammlungen von Häusern und Klöstern. Und wie schon im Buch "Acht Berge", muss sich Cognetti der Höhenkrankheit stellen, die sich aber nur selten zeigt, wofür er sehr dankbar ist. Immer wieder nimmt er das Buch von "Peter" in die Hand, sein Weg wird in der ersten Zeichnung ebenfalls nachgezogen. In einer zugelaufenen Hündin will er die Seele von Peter Matthiessen entdeckt haben, die entsprechend der hiesigen Religion genau dem Alter entspricht, in dem die Seele Verstorbener sich einen neuen Körper suchen. Am Ende der Reise ist sie verschwunden, unauffindbar, als hätte sie nur darauf geachtet, dass der Autor und seine Mitreisenden gut ans Ziel kommen.
So, wie in Australien die Ureinwohner ihren heiligen Berg, den Uluru, umrunden und nicht etwa besteigen, so ist es auch bei buddhistischen Pilgerreisen üblich, ihre Berge zu umrunden und zu beten. Es scheint, als hätten nur westliche Kletterwütige im Sinn jeden Berg zu besteigen, auch wenn diese in den jeweiligen Religionen als heilig gelten und nicht zu besteigen sind.
Hier werden keine Berge bestiegen, es gilt, die hohen Pässe zu bewältigen, das ist vor allem für Cognetti aufregend genug. Immer wieder seinen "Schneeleoparden" zur Hand, hofft natürlich auch er, auf diesen einen Blick zu erhaschen. Sein alter Freund Remigio ist ein versierter Spurenleser und deutet so manches Tier, auch die Fährte des Schneeleoparden meint er zu erkennen.
"Om mani padme hum - O du Juwel in der Lotusblüte", dieser Vers begleitet ihn auf vielen eingravierten Felsen, Steinen, im Holz, auf Tafeln bei seinem Weg. Wird er den Schneeleoparden zu Gesicht bekommen? Wie sind seine Gedanken am Ende des Weges, kann er seine Empfindungen hinüberretten in seine reguläre Welt?
Ein Buch voller Ruhe, es zeigt deutlich, was alles möglich ist.

Mehr vom Autor ist zu lesen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Paolo_Cognetti