Rezension

Ein Leben im Hexenkessel

Der Orientalist
von Tom Reiss

Bewertet mit 5 Sternen

Wer war Essad Bey? Und wer war Kurban Said? Tom Reiss begibt sich auf die Spurensuche nach einem geheimnisumwitterten Schriftsteller, dessen Werk fast in Vergessenheit geriet. Vor dieser Biografie war nur „Ali und Nino“ bekannt – ein aserbaischanischer Nationalroman, dessen Autorschaft die Baronin von Ehrenfels beanspruchte und der von Aserbaidschan für sich reklamiert wurde. Hinter allem steht ein Mann, dessen Name bereits das große Mysterium erklärt: Levi Noussimbaum – ein jüdischer Kaukasier. Als Teenager vor den Bolschewisten aus Baku geflohen, durch das osmanische Reich, in dessen letzten Tagen er sich rettungslos in dessen Kultur und Idee verliebte – um schließlich im Deutschland der zwanziger Jahre anzukommen: ein Land dessen Kaiserreich gerade untergegangen war, von der Revolution, Faschisten und einem aufstrebenden Nationalsozialismus gerade seiner dunkelsten Zeit entgegenging. Ein Leben im Hexenkessel und Levi hat sich geschickt, auch kaltblütig und dann wieder einfach dreist behauptet. Er verstand sich nicht als Jude, sondern als Orientale – dabei hing er einem Orient an, den es so nie gegeben hat und den er doch in sich trug und lebte.

Eine spannende Biografie, die immer wieder zu einem ausschweifenden Geschichtsbuch wird, denn nur wenn man die Zusammenhänge kennt, kann man das Leben dieses ungewöhnlichen Mannes einordnen, seine Handlungen nachvollziehen. Ganz nebenbei entdeckt man immer wieder wie es zum Dritten Reich und den Gräueltaten kommen konnte – ein entsetzliches Netz aus sich gegenseitig bedingenden Ereignissen, die so perfide zusammenspielen, dass man erkennen muss wie einfach alles war und doch so ausweglos, dass nichts die Katastrophe aufhalten konnte als der erste Dominostein fiel.

Nicht nur deutsche oder europäische Geschichte spielt hier eine Rolle. Ganz wichtig ist auch die russische – begonnen mit dem Mord an Zar Alexander – und die des osmanischen Reiches, das zu dieser Zeit auseinanderbrach. Levi lebte im Zentrum der Ereignisse: der sagenumwobenden Ölstadt Baku – eine westlich-moderne Metropole und Ziel der Machtträume von Stalin bis Hitler.

Tom Reiss genügt es nicht den Leser eine Biografie mit sehr viel Geschichtswissen und dem Flair eines Abenteuerromans vorzulegen. Seine Spurensuche war so abenteuerlich, dass er den Leser daran teilhaben lässt. Man steigt mit ihm in eiskalte, schimmlige Schlosskammern und kriecht durch staubige Dachböden. Lernt zwielichtige Anwälte und toughe Zeitzeuginnen kennen, die nichts aus den goldenen Tagen der Vorkriegszeit vergessen haben.

Atemberaubend von der ersten bis zur letzten Seite. Dieser unbekannte Levi Noussimbaum hat Stalin gekannt und Gerhart Hauptmann, war Ehemann einer Millionärstochter, ein erfolgreicher Schriftsteller und genialer Überlebenskünstler, dessen Maskerade erst durchschaut wurde als er der weltlichen Gerichtsbarkeit längst entzogen war.

Tom Reiss hat einen genialen Kopf der Vergessenheit entrissen und macht sehr neugierig auf das Werk dieser schillernden Persönlichkeit. Ein einziges Wermustropfen bleibt: Das Buch hat zu wenig Bilder. Es gibt zwar einen Fototeil, doch der kommt erst ganz am Ende. Gerade da viel auf Fotografien verwiesen wird, hätte es die Lektüre bereichert, diese dort abzudrucken, wo sie erwähnt werden.

Eine ganz klare Leseempfehlung!