Rezension

Ein Leben ohne Tee ist möglich, aber sinnlos

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft - Helen Simonson

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
von Helen Simonson

Bewertet mit 5 Sternen

Seit dem Tod seiner Frau sucht Ernest Pettigrew die Ruhe und hält sich an das, was ihm im Leben schon immer weitergeholfen hat: Höflichkeit, Pflichterfüllung und eine richtig zubereitete Tasse Tee. Seinem aufgeblasenen Sohn, der ihm fremd geworden ist und für dessen Verhalten er sich ständig schämt, geht er, wo er nur kann, aus dem Weg. Und auch von der aufgeregten Fürsorge seiner Nachbarinnen hält er sich fern. Früher war alles besser, seufzt Ernest sich daher in den Bart. Jeder kannte seinen Platz und stellte die Ordnung nicht in Frage. Ausgerechnet die beherzte Jasmina, Besitzerin eines Lebensmittelladens, bringt die starren Ansichten des Eigenbrötlers ins Wanken. Als die beiden sich näherkommen, löst diese ungewöhnliche Leidenschaft großes Unverständnis in ihrer Umgebung aus. (Klappentext)

Major Ernest Pettigrew hat es nicht leicht. Zuerst stirbt seine Frau und nun auch noch sein Bruder. Neben dem Kummer muss er sich zudem mit einigen familiären Konflikten auseinandersetzen. Seine Angehörigen haben nämlich ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie sich ein Witwer seines Alters zu verhalten habe…

Ein ähnliches Schicksal teilt Mrs. Ali. Auch sie ist Witwe. Seit dem Tod ihres Mannes bemüht sie sich alleine, den kleinen Lebensmittelladen des Ortes – und damit auch sich selbst und ihren Lebensunterhalt – über die Runden zu bringen. Und auch ihre Familie ist der Ansicht, dass ihr Platz nun ganz woanders sein sollte…

Als die beiden merken, dass sie nicht nur die Liebe zu einer guten Tasse Tee und guten Büchern miteinander teilen, wird es kompliziert. Wenn man schon den größten Teil seines Lebens hinter sich gebracht hat, schleppt man so einiges an emotionalem Ballast mit sich rum. Und dann die Familie! Beide möchten ihren Angehörigen nicht vor den Kopf stoßen. Bestimmte Dinge waren halt schon immer so. Und andere Dinge gehören sich einfach nicht…

Aber andererseits sind da auch die eigenen Gefühle. Wünsche und Träume, die man noch hat. Und auch eine Portion Trotz: Man will sich doch nicht sein eigenes Leben von den Kindern diktieren lassen!

Beide Charaktere gefielen mir großartig! Beide haben sie Ecken und Kanten, der Major sogar eine ganze Menge. Aber das macht sie so menschlich. Die Liebesgeschichte zwischen ihnen gehört zu einer der schönsten, die ich bisher gelesen habe. Und wenn die beiden zusammen „durchbrennen“, kann es kaum noch romantischer werden.

Aber dieses Buch kann viel mehr als nur Romantik. Es regt an zum Nachdenken:

Was erwartet man von älteren Menschen, gleich welchen Kulturkreises? Hat man nicht auch gewisse Vorstellungen, wie sie sich wohl verhalten sollten?

Wie oft wurden wohl schon die neuen Partner der Eltern von den erwachsenen Kindern abgelehnt?

Wie häufig erwarten erwachsene Kinder wie selbstverständlich von den Eltern, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, um Babysitterdienste auszuüben?

Wie oft passiert das alles nicht mal böswillig, sondern aus der festen Überzeugung der jüngeren heraus, dass es bei älteren Menschen gar keine anderen Interessen mehr geben könnte?

Und nicht nur das Verhalten älteren Menschen gegenüber sollte überdacht werden. Mrs. Ali ist eine Pakistani und hat deswegen gegen reichlich Vorurteile zu kämpfen. Daher auch noch die Frage: Wie steht es mit dem Respekt gegenüber anderen Kulturen?

„Er erträumt sich das Leben, das er nicht führen kann?“ “Genau. Wir dagegen, wir können alles machen, und trotzdem behaupten wir, unsere Träume seien nicht mit dem ganz normalen Leben vereinbar, und weigern uns, sie zu leben. Und jetzt sagen Sie mir: Wer ist mehr zu bedauern?“ (S. 424/425)