Rezension

Ein Spaß fürs Kopfkino

Die Eisläuferin - Katharina Münk

Die Eisläuferin
von Katharina Münk

Bewertet mit 4 Sternen

»Er war es so leid. Jeden Morgen dieselbe enttäuschte Hoffnung, dass sich ein kleines, verheißungsvolles Erinnerungsfenster aufgetan haben könnte, das ihre Reaktionen weniger drastisch ausfallen ließ … Also nahm er wieder ihre beiden Hände, legte sie in ihren Schoß und seine darauf: »Du musst jetzt stark sein, Liebes.« »Die Stasi! Der KGB?« »Nein, Omsk.« Er hatte sich angewöhnt, schnell zu sprechen, um möglichst viele Informationen in eine Sprechphase zu legen. Der Tag war kurz. Sie wusste nicht, was er meinte, fragte, ob ihm nicht wohl sei, und er fuhr schnell fort: »Du hattest vor einigen Tagen einen Unfall während unseres Urlaubs in Sibirien. Dort ist dir ein altes Bahnhofsschild auf den Kopf gefallen, in Omsk eben, und seitdem hast du dein Gedächtnis verloren. Ansonsten bist du kerngesund, du kannst dich bloß nicht an die letzten zwanzig Jahre erinnern. Aber das kriegen wir hin.«

Während einer privaten Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn hat die Regierungschefin einer bekannten westlichen Industrienation einen Unfall: Auf einem Bahnhof fällt ihr ein altes Schild auf den Kopf. Als sie wieder zu sich kommt, erkennt sie zwar ihren langangetrauten Ehemann, wähnt sich aber im Jahr 1991. Gerade erst hat sie ein Mandat bekommen und muss schnellstens in ihren Wahlkreis. Ihr Mann erklärt ihr die Wahrheit und spricht mit Ärzten, nur um am nächsten Morgen zu erkennen, dass alle Mühe vom Vortag vergebens war. Denn nach jedem Aufwachen ist es wieder 1991.

Was schon für den normalen Menschen eine Tragödie wäre, versetzt ihr Parteiumfeld nun in Panik. Schließlich ist sie eine öffentliche Person, ein geeigneter Vertreter nicht in Sichtweite und die Opposition lauert nur auf jede Schwachstelle. Also erhält die Chefin nun Tag für Tag strikt durchorganisierte und perfekt geplante Arbeitsablaufbeschreibungen, die mit einer morgendlichen Filmvorführung (20 Jahre im Schnelldurchgang) beginnen. So mancher Termin erhält da eine besondere Brisanz…

»Kommen Sie, es ist lediglich ein Arbeitsbesuch, ein gemeinsamer Gang durch den Park, von irgendwoher nach irgendwohin und dann wieder zurück, ein Glas Wasser auf der Terrasse und ein Speisezimmertermin. Wir können ihm unmöglich ein zweites Mal absagen. Haben wir geeignetes, aktuelles Filmmaterial für morgen früh?«

Sie blickte zum Regierungssprecher hinüber, der bereits seinen ersten beruflichen Albtraum auf sich zukommen sah. »Nun, wir führen ihr einfach seinen letzten Besuch vor. Dann kann sie mühelos alles so übernehmen, und als Hintergrundinformationen liefern wir ihr die Eurokrisen der letzten zwei Jahre und den Zusammenbruch der griechischen Staatskassen.«

Zusätzlich erschwert wird die Situation dadurch, dass die Chefin nicht nur die letzten 20 Jahre, sondern auch die Fähigkeit des Lesens und Schreibens vergessen hat. Und ein Tag reicht leider nicht aus, um etwas Neues zu lernen, wenn man am nächsten Tag nicht darauf aufbauen kann.

 

Als ich mir dieses Buch raussuchte war mir aufgefallen, dass es diverse schlechte bis mittelprächtige Bewertungen dazu gibt. Darüber habe ich mich schon nach den ersten Seiten gewundert.

Das Kernproblem erahnt man eigentlich schon vor dem Unfall. Die Regierungschefin beschließt gemeinsam mit ihrem Mann, einen richtig privaten Urlaub zu machen. Einmal wollen sie allein unterwegs sein, ohne Sicherheitsbeamte. Sie wollen in der Menge mitschwimmen, statt nur über rote Teppiche zu laufen. Schon an diesem Eingangskapitel hatte ich großen Spaß, denn langjährige Verhaltensweisen lassen sich so einfach nicht abstellen. Da muss der Mann eingreifen, um seine Frau – die doch unerkannt bleiben will – von einer Gruppe Mütter und Kinder loszureißen, auf die sie sich ganz automatisch zubewegt hatte, um „Nähe zu demonstrieren“. Und wenn es dann klappt, und man nicht erkannt wird, ist das irgendwie auch nicht schön.

»Ich fasse es nicht.«

»Was ist denn?« Ihr Mann bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Touristenströme.

»Der hat mich nicht erkannt. Der kennt meinen Namen nicht. Der ist noch nicht einmal ins Grübeln gekommen, nicht einmal für einen kleinen Moment!«

»Na, Gott sei Dank. Wo um Himmels willen liegt das Problem?«

»Adenauer wäre das nicht so ergangen.«

 

Der Urlaub nimmt ja dann ein abruptes Ende, aber während die Chefin Tag für Tag im Jahr 1991 aufwacht, wird ihr mehr und mehr bewusst, dass sie diese Frau, die sie bei den morgendlichen Filmvorführungen zu sehen bekommt, nicht mit ihren neuen Empfindungen in Einklang bringen kann. Sie kommt ihr unlebendig vor, gar nicht echt, eine traurige Gestalt – und das liegt nicht nur an den heruntergezogenen Mundwinkeln. Zum Entsetzen ihres Stabes fängt sie an, sich anders zu benehmen, als man es von ihr gewohnt war. Ganz anders.

 

Dieser Teil ist pure Satire auf die hohe Welt der Politik. Schnell wird dem Leser klar, dass es Regierungssprecher und Co. im Grunde nicht um die Genesung der Chefin geht. Einzig, dass sie funktioniert und ihre Rolle ausfüllt, ist von Bedeutung. Und so perfekt, wie die täglichen Vorbereitungen für Reden und Auftritte laufen, kann man sich leicht vorstellen, dass so auch die Routine bei Spitzenpolitikern abläuft, die nicht unter Gedächtnisschwund leiden.

Und dazu die Sprache! Herrlich! Die Chefin ist es dermaßen gewohnt, schwammige Unkonkretheiten von sich zu geben, dass sie selbst im privaten Umfeld nicht mehr anders sprechen kann. Aber solche Aussagen passen einfach immer, das weiß auch ihr Stab und nutzt es für die Tagesplanung…

»Denken Sie an das Wording, wir sind das heute Vormittag im Film doch alles durchgegangen, ja? Sagen Sie einfach genau das, was Sie vor Ihrem Urlaub auch gesagt haben, ja? Die Fragen müssen Sie nicht kennen, nur die Antworten, die Sie zu geben haben.«

 

Der Rest der Geschichte ist vorhersehbar. Die Chefin ist klarer Sympathieträger und muss folglich zu einem guten Ende geführt werden. Den Weg dahin fand ich aber sehr amüsant.

Überhaupt: „Die Chefin“. Ich besitze noch ein älteres Buch mit einer neutralen weiblichen Person auf dem Titelbild. Das neue Cover ist auch wirklich nicht nötig, denn wirklich jeder sieht schon nach den ersten Seiten eine wohlbekannte Person vor seinem geistigen Auge. Das Kopfkino springt an – und bleibt auch an, das gesamte Buch über. Es gibt unzählige bekannte Dinge, Kleidung, Frisur, die heruntergezogenen Mundwinkel oder die „Tai-Chi-Übung“ mit den vor dem Körper zusammengeführten Fingerspitzen, die die „neue“ Chefin übrigens trotz Übens einfach nicht hinbekommt. Auch andere Personen sind so treffend beschrieben, dass kein Zweifel über ihr reales Vorbild bleibt. Besonders gefiel mir hier das leicht extrovertiert dargestellte französische Staatsoberhaupt ;-)

 

Ein paar Dinge wollten mir aber nicht in den Kopf. Wenn ich versuche mir vorzustellen, dass ich an jedem neuen Tag den alten komplett vergessen habe, dann glaube ich nicht, dass ich – gleich nach erhaltener Info durch meinen Ehemann – versuchen würde, mich umzubringen. Ich glaube auch nicht, dass innerhalb eines einzigen Tages ein so hoher Frustlevel entstehen kann, wie dargestellt. Aber nun gut, mit allzu viel Logik sollte man hier ohnehin nicht rangehen.

 

Fazit: Herrliche Satire. Ein solch menschliches Staatsoberhaupt wünsche ich mir auch..

 

»Hatte sie jemals traumatische Erlebnisse?« Die Ärztin, die er gerufen hatte, setzte eine Spritze in die Armbeuge seiner Frau.

»Nun ja, sie kommt aus der Politik, wissen Sie.«