Ein stinknormaler Krimi?
Bewertet mit 5 Sternen
Xaver März von der Kripo wird zu einer Leiche gerufen. Sie liegt, nur mit einer Badehose bekleidet, am Ufer des Berliner Wannsees. Alles sieht nach einem Badeunfall aus und soll als solcher auch schnell in den Akten verschwinden.
Der Haken ist, der Tote ist Staatssekretär des Generalgouvernements Polen gewesen, die Gestapo mischt sich sehr bald ein, das Berlin von 1964 hat 10 Millionen Einwohner und ist eine architektonische, von Speer realisierte, Albtraum-Reichshauptstadt von Großdeutschland und es sind genau noch 6 Tage bis zu Hitlers 75. pompösen Geburtstagsfeierlichkeiten.
Harris entwickelt über diese 6 Tage einen Politthriller der Extraklasse, der beim Ersterscheinungstermin 1992 in Deutschland noch eine wütende Kritikermeute wachgerüttelt hat, die die deutsche Vergangenheit lieber in der Versenkung gewusst hätte, anstatt darüber nachzudenken, was gewesen wäre wenn...
Nicht nur, dass die Deutschen den Krieg gewonnen haben und ein Nazireich entstanden ist, in dem man entweder der Partei angehört oder kein anständiges Leben führen kann, macht die Kulisse bedrückend, sondern auch die unzähligen Andeutungen von Repressalien und prekären Verhältnissen in denen Andersdenkende leben müssen, die Beschreibung der neuen Grenzen des Reiches und mit welchen Methoden die Staatsordnung aufrechterhalten wird.
Zeugen verschwinden, Telefone werden abgehört, Wohnungen durchsucht. Dieses Buch als einen spannenden Thriller zu bezeichnen, wäre nur ein Viertel des Ausmaßes an Schrecken und Wahrheitsgehalt, die der Autor mit beträchtlichen Geschichtskenntnissen zu einem virtuosen Ganzen verschmelzen lässt.
Am Ende konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Dystopie mit "Lügen" (wobei "Lügen" hier dringend durch ein anderes, mir aber nicht einfallendes, Wort ersetzt werden müsste) nach der Wahrheit trachtet, und wir uns diese, auch mit solchen Büchern, immer wieder vor Augen halten sollten.
Dringende Leseempfehlung für Vaterland von Robert Harris.