Rezension

Ein Stück menschlicher…

Letzte Begegnungen unter dem Galgen - Tim Townsend

Letzte Begegnungen unter dem Galgen
von Tim Townsend

Bewertet mit 4 Sternen

»Es waren die siegreichen Alliierten, die in Nürnberg über die Verbrechen der führenden Nazis urteilten. Aber es war ein Pastor der amerikanischen Lutherischen Kirche …, der diesen Männern zu zeigen versuchte, dass das, was sie eigentlich fürchten sollten, das Gericht Gottes war.«

In den ersten Stunden des 16. Oktober 1946 wurden in Nürnberg elf Menschen hingerichtet, deren Namen sich durch unzählige begangene Gräueltaten einen festen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert und sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hatten.

Henry Gerecke, ein amerikanischer Militärgeistlicher, betreute die Hauptverantwortlichen des Dritten Reichs während der Dauer der Nürnberger Prozesse seelsorgerlich – bis zu ihrer Hinrichtung.

 

Dieses Buch verhalf mir zu einigen neuen und interessanten Denkansätzen. Natürlich kannte ich die zugrundeliegenden Verbrechen (wer nicht?), aber die Hauptverantwortlichen dafür waren für mich schlichtweg Monster, die sich teils selber töteten, teils – zum Beispiel in den Nürnberger Prozessen – für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen wurden. Und nun begegnet mir hier ein Geistlicher, der auch um all die furchtbaren Verbrechen weiß. Der vor Antritt seiner Aufgabe das Lager in Dachau besucht hatte, sich fassungslos gefragt hatte, wie Menschen zu so etwas in der Lage sein konnten. Und der trotzdem bereit war, den Menschen in Göring, Hess, Keitel usw. zu suchen, weil er es als seine Aufgabe ansah, ihnen ihre Schuld bewusst zu machen, Reue zu erwecken. Weil er hoffte, dass sie zu Gott fänden, ihre Seelen vielleicht gerettet werden könnten.

 

Vergebung der Sünden ist ein wesentlicher Punkt des christlichen Glaubens. Aber kann es auch Vergebung geben für Menschen, die eine solch große Schuld auf sich geladen haben? Kann millionenfacher Mord vergeben werden? Mit dieser Frage im Hinterkopf begann ich die Lektüre des Buchs. Der Autor widmet sich recht neutral dem Thema. Er stellt zunächst die Person des Henry Gerecke näher vor, berichtet über seine Herkunft, seinen Werdegang. Dabei wird deutlich, dass Gerecke die Mission als seine spezielle Aufgabe ansah. Dass er ein Mensch war, der – obwohl er Familie hatte – seinem Glauben und seiner Berufung folgend eine sichere Pfarrstelle aufgab zugunsten einer unsicheren und schlecht bezahlten Missionstätigkeit. Gerecke nahm daher auch seinen Auftrag als Seelsorger von Göring, Hess usw. sehr ernst.

Ich habe mich gefragt, ob er wohl ernsthaft an einen Erfolg seiner Mission geglaubt hat, schließlich wusste er genau um die begangenen Verbrechen seiner „Schäfchen“. Auch dem Leser werden diese in einigen Rückblicken noch mal vor Augen geführt, wobei speziell auf die Beteiligungen der jeweiligen Angeklagten eingegangen wird. Nichts wird beschönigt oder versuchsweise entschuldigt und wenn eine Nazigröße zum Gebet niedersinkt, wird das zwar sachlich beschrieben, wie ehrlich dieses Gebet aber gemeint war, kann lediglich der beurteilen, an den es gerichtet war.

 

Für dieses Sachbuch hat der Autor umfangreiche Recherchen betrieben, vielfältige historische Aufzeichnungen zugrunde gelegt, unter anderem solche von Gerecke selbst und Interviews geführt, beispielsweise mit Gereckes Sohn. Er wollte ein umfassendes Bild von Gerecke und von dem ebenfalls in Nürnberg aktiven katholischen Geistlichen zeigen, die bekannten Sachverhalte um eine neue menschliche Dimension erweitern. Das ist absolut gelungen. Ich war fasziniert von dem, was ich las und habe wirklich sehr viel nachgedacht. Ob es göttliche Vergebung für einige der Verurteilten geben kann, weiß ich allerdings nicht. Und ich bin auch froh, dass ich es nicht entscheiden muss ;-)

 

Einen Kritikpunkt habe ich vorzubringen, der mich zum Punktabzug veranlasst hat. Meines Erachtens neigt der Autor zu Ausschweifungen, zum Beispiel, wenn es um Gereckes Herkunft geht. Da hätte man einiges kürzen können, ohne dass Inhalt oder Zusammenhänge gelitten hätten.

 

Fazit: Hochinteressantes Thema aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet. Ein Buch, das nachdenklich macht.

 

»Die Gefängnisseelsorger von Nürnberg machten sich nicht zu Richtern über die Glieder ihrer »Gemeinde«, sie vergaben auch nicht ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie versuchten schlicht, diejenigen Nazis, die dafür offen waren, zu einer vertieften Erkenntnis des Bösen, das sie getan hatten, zu führen. Sie versuchten, Hitlers Handlanger vor ihrer Hinrichtung ein Stück menschlicher zu machen.«