Rezension

Einblicke in zwei völlig unterschiedliche Kulturen

Die Frauen vom Meer - Deniz Selek

Die Frauen vom Meer
von Deniz Selek

Bewertet mit 3 Sternen

Man ahnte es schon, als der türkische Kapitän Sercan in See stach - er wird nicht zurückkommen. Wir wissen warum, wir können mit der kleinen zweijährigen Ferah in die Zukunft schauen. Seza, seine Frau, weiß es nicht. Sie ist Tatarin und hat als junges Mädchen schon einmal einen fürchterlichen Verlust erlitten, als sie und ihre Familie von ihrem Grundbesitz gejagt wurden.

Ferah, Sezas kleine Tochter, inzwischen um viele Jahrzehnte gealtert, trifft sterbend, in einer anderen Daseinsebene, ihren Vater wieder, redet mit ihm über das Vergangene und erzählt ihm von ihrer deutschen Schwiegertochter Elisabeth und der Enkelin Ilyada. So entspinnt sich anhand des Schicksals der verschiedenen Frauen ein türkisches-deutsches Familienepos.

Die Geschichte kommt recht zögerlich in Gang. Die Autorin scheint beim Leser einen gewissen detektivischen Spürsinn vorauszusetzen. Bei diesem Genre finde ich das zumindest ungewöhnlich. Ohne Zweifel, Deniz Selek kann wunderschön schreiben. Oft jedoch fehlt ein gewisser editorischer Feinschliff, und das macht das Lesen häufig etwas zäh. Manchmal sind mir die Alltagsbeschreibungen einfach ein wenig zu aufgereiht. Und dann zu viele ungeordnete Informationen über Personen: erst kam dieser, dann jener zu Besuch, er hatte dies und das gemacht - wer jetzt? Die Vergangenheitsformen geraten durcheinander, und was ist - passiert es gerade jetzt, oder ist es schon geschehen?... Von dieser hin und wieder etwas zerfasernden Erzählweise einmal abgesehen, sind aber die Schilderungen aus den Familien der verschiedenen Kulturkreise durchaus faszinierend und gut beobachtet. Mitten im Gewühl einer ausdrucksstarken Schicksalsschilderung versteckt sich dann auch schon mal politischer Zündstoff, wenn zum Beispiel bei Sezas und Ferahs Ankunft in Istanbul ein alter Mann im Gespräch einen Hinweis auf die Vertreibung der Griechen und den Genozid an den Armeniern fallenlässt (das wird dort natürlich nicht so genannt). Spannend wurde es für mich, als auch die Geschichte der kleinen Elisabeth, Ferahs Schwiegertochter, geschildert wurde, ihre Geburt in einer Berliner Bombennacht und ihre Landverschickung nach Pommern - da horchte ich auf, denn das berührt eigene Familienhistorie ...

Das Hin- und hergerissensein der Protagonistinnen zwischen zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen wird glaubhaft geschildert - was auch kein Wunder ist, entpuppt sich doch der Roman von Deniz Selek als recht autobiographisch, wie wir im Nachwort erfahren. Dieser Umstand erklärt einiges, entschuldigt aber nicht alles. Man weiß oft nicht so recht, wo dieser Roman eigentlich hin will. Die großen, ganze Kapitel überspannenden Rückblenden sind nicht zu beanstanden, aber die vielen Rückblenden, die innerhalb der Kapitel passieren und leider nicht eindeutig mit der richtigen Vergangenheitsform gekennzeichnet sind, verwirren und lassen den Leser hoffnungslos verzettelt zurück. Sprachlich, nun ja ... die Autorin benutzt einen erlesenen Wortschatz, und auch an der Grammatik gibt es nichts zu beanstanden. Insgesamt aber ist die Erzählweise oft frappierend konzeptlos. Vieles bleibt trotz einer ausgiebigen Melodramatik an der Oberfläche. Ein Beispiel: dieselbe Mutter, die fühllos blieb, als ihre kleine Tochter fürchterlich verprügelt wurde, kennt ihre Tochter auf einmal ganz genau und weiß intuitiv, was diese wirklich braucht. Um diesen Wandel dem Leser zu vermitteln, hätte es einiges mehr benötigt als die vielen Schilderungen der Inneneinrichtung und der Alltagstätigkeiten.

Der Schluss - reißt es nicht wirklich raus, ist aber - schön. Oder, eigentlich sind es drei schöne Schlüsse. Nur, dass es nicht reicht - um es einmal musikalisch auszudrücken - viele schöne Töne zu erzeugen;  es sollte auch eine singbare Melodie dabei entstehen ...