Rezension

Eindrucksvoller psychologischer Thriller mit unerwarteten Wendungen

Das verlorene Kind - Michel Bussi

Das verlorene Kind
von Michel Bussi

Bewertet mit 5 Sternen

Gefährliche Erinnerung

Seit Bussis Roman Das Mädchen mit den blauen Augen bin ich ein großer Fan des französischen Schriftstellers und habe alle seine Bücher gelesen. Seine Erzählungen sind immer sehr außergewöhnlich, ungeheuer spannend und haben eine Sogwirkung, wie ich sie bei anderen Autoren selten erlebt habe. Es ist äußerst schwierig, seine Werke einem Genre zuzuordnen, denn sie vereinen viele Facetten: Sie sind Thriller, Familiendramen und gesellschaftskritische Betrachtungen, die die Leser in ihren Bann ziehen und sie in ein raffiniertes Katz-und-Maus-Spiel verwickeln. Immer wenn man glaubt, den Plot durchschauen zu können, öffnet sich eine weitere unvorhersehbare Tür, hinter der sich ein neuer Aspekt verbirgt. Somit wird der Spanungsbogen stets weiter aufgebaut, bis Bussi uns am Ende des Romans eine völlig überraschende Auflösung präsentiert, die uns perplex zurücklässt. Und genau hierin liegt auch das Erfolgsgeheimnis des brillanten französischen Schriftstellers, der für mich zu den vielversprechendsten literarischen Entdeckungen der letzten Jahre zählt.

Ein allzu fantasievolles Kind?

Als Schulpsychologe Vasile Dragonman gebeten wird, den kleinen Malone Moulin zu begutachten, dessen allzu fantasievolle und merkwürdige Erzählungen eine Krankenschwester seiner Vorschule hellhörig werden ließen, ist es für ihn zunächst ein Fall wie jeder andere. Doch als er auf den Kleinen trifft und hört, was er in seiner kindlichen Art zu sagen hat, traut er seinen Ohren nicht: Malone behauptet, seine Mutter sei nicht seine richtige Mama, sein Vater nicht sein richtiger Papa. Darüber hinaus erzählt er Vasile von den Orten, an denen er angeblich früher gelebt und von Dingen, die er gesehen hat: Ein Schloss mit vier Türmen, eine Rakete, ein Piratenschiff und ein Menschenfresser mit einem silbernen Ohrring und einem Totenkopf-Tattoo.

Vasile lassen die Geschichten des Kleinen und auch die Bilder, die er für ihn malt, nicht mehr los. Bar jeder Logik glaubt er Malone und wendet sich zunächst an dessen Klassenlehrerin, Clotilde Bruyère, die von Schulpsychologen gar nichts hält. Für sie ist Malone einfach ein kleiner Träumer, der gern Dinge erfindet, um auf sich aufmerksam zu machen. Doch Vasile lässt sich nicht abwimmeln, und so bleibt Clotilde nichts anderes übrig, als Malones Eltern einzubestellen. Während seine Mutter Amanda äußerst zurückhaltend und befremdet auf die Mitteilung der Lehrerin reagiert, ist sein Vater Dimitri außer sich vor Wut über die Einschaltung des Psychologen und verbietet sich jegliche Einmischung.

Ein Fall für die Polizei?

Als die Schule Malones Fall nach Überprüfung des Familienbuchs der Moulins als erledigt betrachtet, wendet sich Vasile auf Anraten einer Freundin an die Polizei. Doch Commandante Marianne Augresse hat eigentlich gar keine Zeit, um sich näher mit Vasiles Schilderung von Malones Geschichten zu befassen. Nach einem bewaffneten Raubüberfall mit zwei Opfern sind zwei Täter tot und ein dritter ist schwer verletzt auf der Flucht. Darüber hinaus vermutet man, dass ein vierter, sehr brutaler Täter untergetaucht ist. Man fahndet mit Hochdruck nach den Killern, doch von ihnen fehlt jede Spur. Somit hört sich Marianne Vasiles Erläuterungen auch nur zwischen Tür und Angel an, um ihrer gemeinsamen Freundin Angie einen Gefallen zu tun. Sie hält Malones Aussagen für kindliche Spinnereien, doch Vasile lässt nicht locker.

Nachdem er ihr dann in einem weiteren Gespräch auch noch mitteilt, dass Malone nach eigenen Aussagen die bizarren Stories von seinem heißgeliebten Kuscheltier Gouti erzählt bekommt, ist sie drauf und dran, Vasile freundlich aber bestimmt abzuweisen. Doch dann entdeckt Vasile durch Zufall einen Mini-MP3-Player in Goutis Bauch, auf dem mit verfremdeter Stimme sieben Geschichten für Malone aufgesprochen wurden. Er überlässt ihn Marianne zur Auswertung, aber sie ist genervt und widmet sich wieder dem alles dominierenden Raubüberfall, der absolute Priorität genießt.

Eine tödliche Falle

Vasile forscht auf eigene Faust weiter und erstellt eine Karte mit den Orten aus Malones Erzählungen und Bildern. Auch eine bedrohliche anonyme SMS kann ihn nicht davon abhalten, die Suche nach Malones wahrer Identität fortzusetzen. Nach langen Recherchen führt ihn sein Weg schließlich zu einer äußerst abgelegenen Gegend bei Le Havre, wo er sich auf Spurensuche begibt. Als er endlich Beweise für Malones Behauptungen gefunden zu haben scheint, muss er zu seinem Entsetzen feststellen, dass man ihn in eine tödliche Falle gelockt hat…

Eindrucksvoller psychologischer Thriller mit unerwarteten Wendungen

Mit Das verlorene Kind ist Michel Bussi ein nervenaufreibender psychologischer Thriller der Extraklasse gelungen. In seinem Roman, der sich aus unterschiedlichen Erzählsträngen zusammensetzt, spielt der Autor gekonnt mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen der einzelnen Figuren, die versuchen, Malones kindliche Aussagen zu dechiffrieren. Am eindrucksvollsten ist die Geschichte immer dann, wenn uns Bussi in die Gedanken des kleinen Malone eintauchen und uns die Welt mit seinen Augen sehen lässt. Diese Kapitel sind sehr anrührend und ziehen uns noch tiefer in das Geschehen hinein, so dass wir – wie Vasile – unbedingt herausfinden möchten, wer Malone in Wirklichkeit ist.

Doch wieder und wieder wird uns dabei bewusst, wie fragil und formbar das Gedächtnis und die Erinnerungen eines kleinen Kindes sind, wie wenig wir ihnen trauen können und auf was für ein unsicheres Terrain wir uns begeben, wenn wir ihnen wortgetreu folgen. Alle diese Aspekte machen den Roman zu einem ganz besonderen Werk, das durch eine aufwühlende, dramatische Story besticht, deren kleiner Protagonist noch lange im Gedächtnis bleibt. Mein Fazit: Ein hochspannender, klug konzipierter Pageturner – sehr lesenswert!