Rezension

Eine Generalabrechnung

Serotonin
von Michel Houellebecq

Mitunter stehe ich ratlos vor einem Buch: Man versteht den Titel nicht wirklich, man weiß nicht, ist es ein Krimi, eine Reportage, eine satirische Dystopie oder ein Liebesroman? Genau so erging es mir mit Michel Houellebecqs Roman „Serotonin“.

Beginnen wir  mit dem Einfachen: der Handlung. Erzählt wird die Geschichte von Florent-Claude Labrouste, einem Mittvierziger zunächst mit, bald aber ohne Frau, ohne Familie, ohne Freunde und ohne Kollegen. Da er sich zudem für nichts wirklich interessiert, läuft er einsam und niedergeschlagen durch die Welt. Daran ändern auch seine japanische Ehefrau Yuzu, die ihn betrügt, und sein Beruf als Berater des Landwirtschafts­ministeriums, der ihn ankotzt, nichs. Der Mann ist am Ende,  frustriert und depressiv.  

 

Wir haben es also mit einem höchst unglücklichen Menschen zu tun, der mehr als einmal über Selbstmord nachdenkt. Was auch daran liegen könnte, dass sein Körper das Glückshormon Serotonin nicht mehr produzieren kann. Allerdings nimmt er dagegen schon seit der ersten Zeile des Romans ein Medikament. Das gleicht zwar den Mangel aus, macht ihn gleichzeitig aber impotent. Nun ja, irgendwas ist ja immer!

 

Ansonsten tut Houellebecq das, was er seit vielen Erfolgsromanen am besten kann: Er provoziert, indem er über alles und jeden schimpft, egal ob Brüssel und die EU, Ausländer oder Politiker, Franzosen oder Holländer, Schlampen oder Schwule. Und er lässt seinen Helden gegensteuern mit reichlich Alkohol, Zigaretten und Psychopharmaka.

 

Eines Tages verwirft Labrouste mal wieder einen Selbstmord und entschließt sich stattdessen, seinen Job zu kündigen und unterzutauchen. In der tiefsten französischen Provinz, allerdings auch  in qualvollen Erinnerungen. Zwei Frauen trauert er besonders nach, Seiten über Seiten wird über vergebene Chancen und verlorene Lieben gejammert. Als er sich an seinen einzigen Freund aus Studientagen erinnert, sucht und besucht er ihn, doch auch hier gerät er an einen zutiefst unglücklichen Menschen: verlassen von der Frau, ruiniert durch die EU.

 

Kein Wunder, dass die Selbstmordgedanken zurückkehren. Er bekämpft sie, indem er seiner großen Liebe nachspioniert. Allen Ernstes erwägt (und verwirft) er die Idee, deren Sohn zu ermorden, weil er denkt, sie so zurückgewinnen zu können. Am Ende gibt er auch dieses Vorhaben (wie alle seine Vorhaben) auf und kehrt nach Paris zurück. Übrigens in eine anonyme Hochhauswohnung, so dass der "springende" Punkt, ein Freitod, bei Bedarf kein Problem darstellen sollte.

Müsste ich allerdings wetten, würde ich keinesfalls auf einen Suizid setzen, sondern darauf, dass auch aus diesem Plan Labroustes niemals etwas wird.

 

So, nun denken Sie sicher: Was für ein unsäglicher, bescheuerter Roman, nicht wahr? Aber soll ich Ihnen etwas sagen: Sie irren sich gründlich. Dieser Roman klingt in der Inhaltsangabe nach nichts, liest sich aber spannend von der ersten Seite bis zur letzten. Lassen Sie sich diese Generalabrechnung mit der modernen Gesellschaft, der Wirtschaft, der Politik und mit der Menschheit keinesfalls entgehen!

Kommentare

wandagreen kommentierte am 22. August 2020 um 20:30

Finde ich jetzt nicht. Fand den Roman so langweilig, dass ich nach zwei Dritteln aufgegeben habe.

kommentierte am 22. August 2020 um 20:34

Ehrlich gesagt: Das kann ich irgendwie verstehen. Vielleicht muss man - wie ich - für Houellebecq grundsätzlich etwas übrig haben? Ach, ich weiß auch nicht! ;-)

wandagreen kommentierte am 23. August 2020 um 00:18

Ich fand "Unterwerfung" gut. Zynisch, sexistisch - mit diesem komischen Gelehrten über Strecken hinweg auch mühsam - aber letzten Endes finde ich die Szenerie durchaus glaubwürdig.
 

kommentierte am 23. August 2020 um 09:52

Ich hatte vorher gelesen (und fand alle lesenswert): Elementarteilchen, Karte und Gebiet und Unterwerfung

Bei Serotonin beeindruckte mich die düstere Grundstimmung. Obwohl nichts wirklich Schreckliches passierte, hatte man doch permanent den Eindruck nur Sekunden (oder wenige Seiten) von einer totalen Katastrophe entfernt zu sein. Vielleicht empfindet man das ja nur als "Fan" von Houellebecq so???