Rezension

Eine Geschichte aus der Mitte unserer Gesellschaft

Wir holen alles nach - Martina Borger

Wir holen alles nach
von Martina Borger

„Sie will nicht, dass er sich wie ein Klotz an ihrem Bein fühlt. Was er vermutlich schon längst tut.“ – Seite 72.

Dieser Satz beschreibt in wenigen Worten zutreffend den Konflikt, in dem sich unsere Protagonistin Sina befindet. Sie ist alleinerziehende Mutter des 8-jährigen Elvis und sie ist Vollzeit berufstätig. Der Job fordert sie sehr, sie hat finanzielle und berufliche Zukunftssorgen und ist stets auf der Suche nach einer Betreuungsmöglichkeit für den kleinen Elvis. Als der unzuverlässige und viel beschäftigte Vater des Jungen wieder einmal den mit ihm geplanten zweiwöchigen Sommerurlaub absagt, sieht Sina sich gezwungen, Elvis für diese Zeit bei seiner Nachhilfelehrerin Ellen unterzubringen. Die Rentnerin kümmert sich sehr liebevoll um das Kind und widmet ihm ihre volle Aufmerksamkeit. Nach einem Wochenende, das Elvis mit Sinas neuen Lebensgefährten beim Zelten verbracht hat, bemerkt Ellen jedoch, dass es dem Jungen gar nicht gut geht. Es entsteht eine komplexe Verdachtslage, die so einiges ins Rollen bringt.

Martina Borger hat mit diesem Roman eine ausgesprochen schöne und in keiner Form langweilige, sondern vielmehr einzigartige Alltagsgeschichte geschrieben. Ich hätte nicht gedacht, dass Alltag so spannend sein kann. Doch der Autorin gelingt ein flüssiger und angenehmer Schreibstil, der einen durch die Geschichte nur so durchfliegen lässt. Gleichzeitig baut sie eine enorme Spannung auf, weil sie diverse Perspektivwechsel eingebaut hat und man sich immer wieder fragt, wie Sina die schwierige Situation denn nun angehen wird, wie Ellen sich in ihrem Gewissenskonflikt entscheiden wird und vor allem, was dem kleinen Elvis eigentlich zugestoßen ist. Die Geschichte ist daher ein wahrlich kurzweiliges Lesevergnügen.

Auch inhaltlich konnte die Autorin mit einer bunten Vielfalt gesellschaftskritischer Fragestellungen und aktueller Konfliktlagen überzeugen. Themen wie Altersarmut, Langzeitarbeitslosigkeit, der frühe Tod von nahen Angehörigen, Alkoholismus, Mobbing und der problematische Münchner Mietmarkt sind nur einige der kontroversen Angelegenheiten, die für Martina Borger kein Tabu waren. Dadurch hat sie dem Buch eine Tiefe gegeben, die mir sehr gefallen hat.

Schade fand ich einzig und allein, dass sie wenig subtil den Verdacht darüber, was Elvis nun Schlimmes zugestoßen sein könnte, in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. Mir ist klar, dass es Teil der Geschichte war, dem Lesenden klar zu machen, wie leicht man eine andere Person vorverurteilen kann. Dies hätte man meiner Meinung nach wesentlich geschickter einfädeln können, ohne den Verdacht offensiv in eine bestimmte Richtung zu drängen. Schade fand ich auch, dass die eigentliche Problemlage, in der sich Elvis befand, schlussendlich nur zu einem Nebenkriegsschauplatz degradiert wurde. Allein diese Erfahrungen des Jungen haben das Potential, ein eigenes Buch zu füllen und wurden hier leider nur am Rande dargestellt.

Insgesamt empfand ich Martina Borgers Roman jedoch als schöne, realistische Geschichte mitten aus dem Leben in Deutschland, die zwar an der ein oder anderen Stelle ein wenig Potential verschenkt hat, aber im Großen und Ganzen nichts an Komplexität und Aktualität einbüßen musste.