Eine Kindheit in Ost-Berlin
Bewertet mit 3.5 Sternen
Die junge finnische Journalistin Vilja Siltanen hat als Kindergartenkind kurz vor der deutschen Wiedervereinigung in Berlin Mitte im Bereich der Fischerinsel gelebt. Nach dem Tod ihres Vaters Markus, der damals in Ost-Berlin als Journalist/Auslandskorrespondent arbeitete, findet sie einen Stapel leidenschaftlicher Liebesbriefe, die Markus von einer Person mit dem Decknamen Margot erhalten haben muss. Vilja vermutet, dass darin neben diversen anderen Decknamen auch sie selbst genannt wird: Kastanie. An ihre Kindergartenzeit erinnert sie sich kaum noch, obwohl ihr Vater sich nach der Rückkehr nach Finnland lange bemühte, ihre Deutschkenntnisse zu erhalten. Ihre inzwischen getrennt lebenden Eltern ließen die Erinnerung an die Berliner Jahre offenbar bewusst ruhen. Vilja will nun zu Beginn der 10er Jahre Margots Spur aufnehmen und sie von Martins Tod informieren. Als Besucherin im Ost-Berlin ihrer Kindheit wird Vilja bewusst, wie gering ihre Erinnerungen an ihre Kindergartenzeit sind, obwohl das Stadtviertel auf sie vage vertraut wirkt. Sie wird sich damit auseinandersetzen müssen, wer ihr Vater war und was neben der Arbeit in Internationalen Pressezentrum sein Leben ausmachte. Sie lebt heute wieder in Finnland und ist frisch in die Filmemacherin Saga verliebt.
Auf drei Zeitebenen erzählt Meri Valkama vom Leben im goldenen Käfig des Ostberliner Prominentenviertels: die 80er Jahre in Ostberlin, „Margots“ kursiv gesetzte Briefe an Martin aka „Erich“ und Viljas Spurensuche in Berlin 2011/12. Valkamas Leser:innen folgen Markus u. a. an seinen Arbeitsplatz, an dem er als überzeugter Kommunist linientreue sprachlich eher dürftige Propagandameldungen verfasst. Seine Frau Rosa leidet zunehmend darunter, dass sie trotz des in der DDR kostenlosen Kindergartenplatzes für Matias durch die kleine Vilja auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert bleibt und sich kaum auf ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit konzentrieren kann.
„Margots“ Briefe wirken zunächst höchst rätselhaft; Briefwechsel unter Decknamen und Sendungen an Deckadressen waren in der DDR-Zeit jedoch üblich zwischen DDR-Bürgern und ihren Verwandten im „kapitalistischen Ausland“. Dass die Staatssicherheit private Briefe und Geschenksendungen öffnete, kontrollierte oder beschlagnahmte, war für die Betroffenen kränkend und forderte zu diesem Spiel geradezu heraus.
Mit großer Detailfreude erweckt Mari Valkama das Privatleben privilegierter Ausländer in Ost-Berlin zum Leben, konzentriert sich jedoch leider auf den privaten Konflikt, der parallel zur Öffnung der Berliner Mauer 1989 eskaliert. Martins Berufstätigkeit bleibt blass (was tat er die restlichen Stunden des Arbeitstags, welche Themen recherchierte er, wie sah die Zusammenarbeit mit den DDR-Behörden aus?), so dass ich ihm vom Beginn des Romans an nicht traute. Gemessen am Umfang von über 500 Roman-Seiten vermisse ich eine kritische Auseinandersetzung (besonders von Markus als Kommunist) mit dem privilegierten Status der Familie. Die arbeitende Bevölkerung lebte in Häusern, die noch die Spuren der Bombenangriffe von 1945 zeigten, konnte mit DDR-Mark anders als die Siltanens nicht im Intershop einkaufen und ihre ummauerte Heimat nicht verlassen. Vergleichbar mit Trude Teiges „Als Großmutter im Regen tanzte“ gelingt Meri Valkama zwar ein bis zuletzt spannender wie berührender Familienroman aus den letzten Jahren der DDR, dem jedoch die kritische Auseinandersetzung der Siltanens mit ihrer Perspektive aus dem Elfenbeinturm fehlt. Der Roman spielt in der DDR, erzählt jedoch m. A. zu viel aus Viljas Leben der Gegenwart.
Fazit
Auf wen das Verhalten der erwachsenen Figuren in den 80ern rückblickend befremdlich wirkt, dem empfehle ich Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“, das sich mit der pädagogischen Seite der Epoche auseinandersetzt.