Rezension

Eine kleine Novelle der Einsamkeit...

Lumpenroman - Roberto Bolano

Lumpenroman
von Roberto Bolaño

Bewertet mit 4 Sternen

"Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle" - so beginnt Biancas Bericht. Nach dem tödlichen Unfall der Eltern leben Bianca und ihr Burder allein in Rom, ohne Trost und Ziel, und schlagen sich mit schäbigen Jobs durch. Bis eines Tages der Bruder zwei sinistre Kumpane mitbringt, die sich bei den Geschwistern einnisten und sie in ihren Plan einweihen: Sie wollen den sagenumwobenen Tresor von Maciste knacken, einem erblindeten Bodybuilder und Star aus den Gladiatorenfilmen der fünfziger Jahre. Bianca soll den Köder spielen und in seiner riesigen abgedunkelten Wohnung den Safe ausfindig machen. Eine Nacht nach der anderen gibt sich Bianca gegen Geld dem glatzköpfigen Muskelprotz hin, der aussieht wie ein 'kaputter Kühlschrank'. Aber der ursprüngliche Plan scheint nicht aufzugehen...

"Von dem Moment an veränderten sich die Tage, oder vielmehr veränderte sich der Lauf der Tage. Oder vielmehr das, was den einen und den anderen Tag verbindet und zugleich eine klare Grenze zwischen beiden zieht. Auf einmal gab es keine Nacht mehr und war alles ein Dauerzustand von Sonne und Licht."

Eine kleine Novelle der Einsamkeit präsentiert Roberto Bolaño hier. Er lässt Bianca erzählen von der Zeit nach dem Unfalltod ihrer Eltern, der alles anders werden ließ, die Sprache kühl und reduziert, die Ausweglosigkeit der Situation pragmatisch und nüchtern vor Augen führend. In einer nahezu emotionslosen, dokumentierenden und nicht wertenden Art lässt Bolaño das noch nicht volljährige Mädchen berichten von den Nächten voller Licht - und dennoch sieht sie niemand im überfüllten Rom in ihrer Einsamkeit und Trostlosigkeit. Selbst in der gemeinsamen Wohnung gibt es keine Nähe, nur Distanz, jeder kreist um sich selbst, und Bianca hört zunehmend auf, sich um sich selbst zu scheren.

" Was hatten sie gesehen? fragte ich mich. Was für ein Gesicht, was für Augen hatten sie gesehen? Ich frage mich das nicht oft, aber irgendwann hatte ich mich das sicher gefragt. Jetzt weiß ich, dass es keine Nähe gibt. Irgendwer hat immer die Augen zu. Wenn der eine sieht, dann der andere nicht. Wenn der andere sieht, dann der eine nicht. Nur eine Mutter kann nah sein, aber das war damals das Unbekannte. Nicht Vorhandene. Es gab bloß die Illusion von Nähe."

Trotz des nüchternen und distanzierten Schreibstils hat mich die Erzählung gepackt und sie bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legen lassen. Immer wartend auf das, was da geschehen mochte, etwas, das einen Schnitt in die trostlose Einsamkeit zog, gespannt sein ließ auf das Ende - so oder so. Flüssig lesen ließ sich der Text, trotz der vordergründigen Emotionslosigkeit oftmals poetisch und im Hintergrund durchzogen von tiefer Traurigkeit. Für mich eine überzeugende Mischung.

"Ich wartete auf etwas. Auf eine Katastrophe. Auf einen Besuch der Polizei oder der Frau vom Sozialamt. Auf die Ankunft eines Meteoriten, der den Himmel verdunkelte. Mein Bruder lieh sich Filme (...) aus und ich wusch Köpfe und nichts geschah."

Für mich ein Zufallsfund, der sich als kleine Perle entpuppte...

© Parden