Rezension

Eine Mutter kämpft um das Leben ihrer anorektischen Tochter

Gramm für Gramm zurück ins Leben - Harriet Brown

Gramm für Gramm zurück ins Leben
von Harriet Brown

Bewertet mit 4.5 Sternen

Harriet Brown beschreibt in diesem Buch die Anorexie ihrer Tochter Kitty, die im Alter von 14 Jahren an der mitunter tödlichen Essstörung erkrankt und mit 18 Jahren immer noch dagegen kämpft. Die Mutter begleitet, analysiert, therapiert und beobachtet die Tochter im ersten Jahr der akuten Erkrankung mit Argusaugen und schreibt akribisch alles auf. Sie kämpft mit Kitty gegen den Dämon namens Anorexie, der ihr Leben bestimmt und ihr Wesen beherrscht.

Am Ende ist es die FBT (familienbasierte Therapie von Anorexie), die die Autorin für die "Heilung" von Kitty verantwortlich macht. Diese besteht darin, Kitty die Verantwortung für das Essen komplett abzunehmen und sie aufzupäppeln - ohne wenn und aber. Erst mit dem Erreichen von mindestens 90% des Sollgewichts kann dem Betroffenen die Verantwortung wieder schrittweise übertragen werden - so die Theorie hinter dem Konzept der FBT.

Letztlich dreht sich allerdings dadurch in der Familie der Betroffenen der Alltag nur noch und ausschließlich ums Essen und mindestens die Mutter erlebt jede noch so kleine Gefühlsregung der Tochter quasi am eigenen Leib mit.

Das Buch ist sehr gut recherchiert und mit zahlreichen Studien untermauert. Alle Theorien und Erklärungsansätze zu dem Thema kommen zur Sprache, was zum Teil etwas trocken wird beim Lesen. Ich habe mich dabei auch gefragt, wieso die Autorin all dies zitiert, was sie dem Leser damit eigentlich mitteilen will, wo sie doch ganz klar ihre skeptische Haltung gegenüber allen von Ärzten und Therapeuten angewandten Behandlungsmethoden offenbart, die ihrer Meinung alle in der Vergangenheit steckengeblieben sind. Manche Studien sind sehr interessant, aber wirklich anwenden kann man sie auf eine Essstörung, die eben nicht unter isolierten bzw. klinischen Bedingungen entsteht, nicht. 

Ich bin zwiegespalten. Einerseits sehe ich das wahnsinnige Engagement dieser Mutter, die ein Wissen anhäuft, das den wenigsten Betroffenen und Angehörigen zur Verfügung steht, nur um ihrer Tochter und deren Leid zu verstehen, um ihr zu helfen. Die wenigsten Mütter bekommen so früh Wind von der Essstörung ihrer Kinder wie Harriet Brown, die quasi vom ersten Moment an gegengesteuert und gekämpft hat. Andererseits wundere ich mich über Kitty, dass sie alles so früh und so schnell offengelegt hat, dass sie die Nähe ihrer Mutter zulassen konnte und dass sie sich im Grunde verhaltenstechnisch alles(!) leisten konnte, ohne ihre Mutter zu vergraulen. 

Wie dem auch sei. Typisch ist sowas nicht und "normal" irgendwie auch nicht. Mir kommt es irgendwie künstlich vor, als hätte man die Magersucht zu Beobachtungszwecken initiiert und dann mit der FBT halbwegs wieder aus der Welt geschaffen. Es wirkt alles zu perfekt, um echt zu sein. 

Andererseits hat mich die Geschichte tief berührt, weil ich damals auch gerne so eine Mutter gehabt hätte, die hinter mir steht und mich auffängt, die mich nie verurteilt, die mit mir kämpft und alles Irrationale dem Dämonen zuschreibt und nicht mir und die mir nicht den Stempel "geistesgestört" aufdrückt, wie es bei mir war. Dafür bewundere ich die Autorin. Ich will deshalb auch nicht an der Glaubwürdigkeit zweifeln und wünsche der ganzen Familie Brown alles erdenklich Gute!

Inwieweit das Buch Betroffenen helfen kann, weiß ich nicht, weil die FBT hier bei uns in Deutschland meines Wissens nach nicht praktiziert wird. Es richtet sich meines Erachtens eher an Angehörige und vielleicht sogar Ärzte und Therapeuten, da viele Studien herangezogen werden, die sich mit der Physiologie des Hungerns beschäftigen und damit das Verständnis der Krankheit von der rein psychischen Komponente weglenken.