Rezension

Eine Tat und ihre Folgen

Stimmen in der Nacht - Laura Brodie

Stimmen in der Nacht
von Laura Brodie

Alles beginnt ganz harmlos anläßlich einer Abschlußparty der College-Studenten in Virginia, die regelmäßig auf dem Wiesengrundstück von T.A. Hillyer stattfindet. Drei Studenten finden den Weg nicht dorthin und verlaufen sich auf das Grundstück der Literaturprofessorin Emma Greene. Deren fünfjährige Tochter Maggie kann nicht schlafen, sie hört ihre Stimmen im Garten. Emma erkennt drei ihrer mittelmäßigen Studenten: Jacob, den sie als charmanten Blender in Erinnerung hat, Kyle Caldwell, der in ihren Augen ein Kleptomane ist und eine Studentin, die so unscheinbar wirkt, daß sie ihren Namen vergessen hat. Nachdem diese ihre Toilette benutzen möchte, schließt Kyle sich ihr an. Emma hatte ihn schon lange wegen Diebstahls in Verdacht und beim Sprecher des Ehrenkomitees der Holford-Studenten anzeigen wollen. Ihr Bettelarmband, „ein Glücksbringer aus ihrer Jugendzeit“ (S. 15), fehlte seit geraumer Zeit und es kam nur Kyle in Frage, der es gestohlen haben könnte. Damals hatte sie keine Beweise, jetzt muß er einen Verweis vom College befürchten, denn die Studentin trägt es an ihrem Arm. Jacob will den Streit zwischen Emma und Kyle schlichten und versucht sich Zugang zu ihrem Haus zu verschaffen. Kyle folgt ihm. Was dann geschieht, wird das Leben aller involvierten Personen für immer verändern. Maggie, die alles mit ansieht, flieht über eine Leiter in den nahegelegenen Wald. Sie ist über Jahre hinweg traumatisiert und kann ohne Besuche bei ihrem Therapeuten ihre Albträume nicht besiegen, findet später aber den Weg in ein normales Leben. Nachdem das Elternhaus verkauft wurde und Maggie mit ihrem Vater Rob in eine andere Stadt gezogen ist, unterrichtet neun Jahre später eine neue Mathelehrerin an ihrer Schule. Grace Murdock weckt bei Maggie alte Erinnerungen. Plötzlich leidet sie wieder unter Albträumen, ist unkonzentriert, ihre Noten verschlechtern sich und sie beginnt die Schule zu schwänzen. Was hatte Maggie damals wirklich alles gesehen und warum hat sie nie die ganze Wahrheit erzählt?  

Laura Brodie versteht es, den Leser mit ihrem interessanten und gut ausgearbeiteten Roman „Stimmen in der Nacht“ zu überraschen. Glaubt man nach den ersten Seiten die wahren Hintergründe der Bluttat, die sich vor knapp zehn Jahren in einer warmen Sommernacht auf dem Grundstück der Professorin Emma Greene ereignet hat und auch das Opfer näher zu kennen, wird man nach dem ersten gelesenen Drittel eines Besseren belehrt. Stilistisch perfekt inszeniert, spannend, wendungsreich und in einer angenehmen Erzählweise zieht die Autorin den Leser in ihren Bann und gibt erst im letzten Kapitel die ganze Wahrheit preis. Die Charaktere sind gut ausgearbeitet und tiefgründig. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen, einmal in der Vergangenheit und im späteren Verlauf in der Gegenwart. Der Leser erfährt rückblickend, wie jeder Einzelne diese Nacht erlebt, verarbeitet und wie sich sein Leben dadurch grundlegend verändert hat. Laura Brodie, die wie ihre Protagonistin Emma gleichfalls Professorin für englische Literatur ist, läßt gekonnt und auf leicht verständliche Weise verschiedene Werke der englischen Literatur einfließen, so u.a. im letzten Kapitel „Gerechtigkeit“ die über 200 Jahre alte Ballade „Der alte Matrose“ von Samuel Taylor Coleridge, die für Sünde und Vergebung steht. Bei Coleridge erzählt ein alter Seemann ungefragt einem Hochzeitsgast seine Geschichte. Ein Albatros habe sein Schiff aus der Antarktis  herausgeführt, trotzdem erschoß er den göttlichen Boten mit einer Armbrust. Zur Strafe starben alle an Bord, nur der alte Matrose überlebte und wurde dazu verdammt, die Geschichte seiner Sünde immer und immer wieder zu erzählen. So soll auch der Schuldige bei „Stimmen in der Nacht“ für seine Tat büßen und ungefragt wieder und wieder die Wahrheit erzählen. Auf ein spezielles Genre kann man den Roman nicht festlegen. Er ist eine gelungene Mischung aus Psychothriller, Krimi und Drama. Die Übergänge sind fließend und lassen ihn zu einem gelungenen Leseerlebnis werden.