Rezension

Eine umstrittene Rekonstruktion

Maifliegenzeit -

Maifliegenzeit
von Matthias Jügler

Bewertet mit 5 Sternen

..., der Versuch ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte anzusprechen, die Fiktionalisierung von Verdachtsmomenten, macht dieses schmale Büchlein zu einem wahren Schwergewicht und ruft die Geister der Literaturpolizei auf den Plan. Eine Besprechnung seines Romans im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2024 sollte nur unter der Bedingung der Vorlage von Belegen zur Wahrhaftigkeit von Jüglers Aussagen stattfinden. Ein Roman ist keine eidesstattliche Aussage, Herr Jügler fühlte sich nicht verpflichtet und so kam es zu keiner Lesung. Stattdessen muss sich Jügler des Vorwurfs, der Retraumatisierung von sich als Opfer fühlenden Eltern durch die ehemalige Beauftrage des Landes Sachen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, stellen... ei der Daus, was ist denn da los?

Und um was geht es eigentlich?

Hans und Katrin sind ein glückliches Paar und erwarten ihr erstes gemeinsames Kind. Es kommt 1978 zur Maifliegenzeit in Naumburg an der Saale zur Welt. Doch einen Tag später wird den Eltern mitgeteilt, dass der Säugling auf dem Transport in ein Kinderkrankenhaus verstorben sei. Es hätte ein zu schwaches Herz gehabt. Katrin ist zutiefst verstört, hat sie ihr Baby doch kräftig schreien hören. Sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Hans hingegen ergibt sich still in seine Trauer und kann sich nicht mit Katrins unruhigem, fragenden Verhalten abfinden. Die Beziehung zerbricht. Hans bleibt im elterlichen Haus nah der Unstrut in Sachsen-Anhalt. Er ist passionierter Angler, wie schon sein Vater. Er findet am Wasser Trost. Katrin erliegt 1987 einem Krebsleiden, nimmt Hans aber noch das Verprechen ab, den Tod des gemeinsamen Sohnes Daniel zu recherchieren, sollte dies jemals möglich werden. 2 Jahre später ist es soweit, die Mauer fällt, Krankenakten werden zur Einsicht freigegeben. Doch auch jetzt stößt Hans auf Mauern. Erst 2018 verkündet seine neue Lebensgefährtin Anne, dass Daniel angerufen habe!

Was anfänglich wie ein Anglerroman anmutet und den Leser auf eine spannende Reise in die heimische Fischwelt entführt, entpuppt sich aber bald zu einer dramatischen Geschichte um einen vorgetäuschten Säuglingstod. Das lebenslange Trauma der leiblichen Eltern, das "geraubte" Kind, dem plötzlich der Boden seiner festgefügten Wahrheiten entzogen wird... da scheint eine Annäherung schwierig, gar eine behördliche Hilfestellung, wegen Verleugnung solcherart Vorkommnisse, nicht in Sicht.

Jügler lässt sein tendenziell postives Ende offen, doch hinterlässt er zumindest ein dickes Ausrufezeichen beim geneigten Leser. Es darf und muss diese Art der Literatur geben, zumal wenn sie so behutsam, ohne Anklage und Schlagzeilen auskommt. Aber den Klägern sei gedankt, das Wichtige wurde somit unterstrichen, das Interesse gesteigert.

In einer Nachbemerkung stellt Jügler klar, dass es inzwischen 3 bestätigte Fälle von vorgetäuschtem Säuglingstod zwecks Weitergabe an fremde Eltern gibt. 2000 Verdachtsfälle harren ihrer Aufklärung und der Nachfolger von Frau Neumann-Becker, Johannes Beleites, sagt allen Betroffenen die Hilfe seiner Behörde zu. Eine Gratwanderung krempelt sich zu einer Kehrtwende um. Wozu Bücher doch alles gut sein können! Bitte lesen!