Rezension

eine wiederentdeckte literarische Perle

Zwei Wochen am Meer -

Zwei Wochen am Meer
von R. C. Sherriff

Bewertet mit 5 Sternen

In einer Umfrage des britischen "Guardian" wurden Schriftsteller 2020 nach literarischen Entdeckungen während des Corona-Lockdowns befragt. Ein Ergebnis dieser Umfrage ist der vorliegende, 1931 erschienene Roman des Schriftstellers und Drehbuchautors R. C. Sherriff.

Er führt uns in einen Londoner Vorort in den frühen 1930iger Jahren. Hier lebt die fünfköpfige Familie Stevens im eigenen kleinen Haus mit Garten. Vater, Mutter, drei Kinder, davon zwei fast erwachsen und ein Zehnjähriger. Mr Stevens hat sich beruflich in 20 Jahren bis zum Angestellten hochgearbeitet, das Leben ist bei bescheidenem Wohlstand auskömmlich, und seit ebenfalls 20 Jahren verbringt die Familie die Ferien in Südengland im Badeort Bognor in der Pension Seaview.

Der Leser begleitet die Familie während ihrer Abreise von zuhause und auf ihrer Zugfahrt nach Bognor und während ihres, wie es scheint, letztmaligen mit allen Kindern verbrachten Aufenthalts in Bognor.

Es ist eine im besten Sinn altmodische Geschichte, die hier erzählt wird und in der nicht viel passiert. Eine Familie vor fast hundert Jahren in England, die ein aus heutiger Sicht altmodisches Leben führt: Mr Stevens, Vater und Ernährer, seine Ehefrau, zurückhaltende und fleißige Hausfrau und Mutter und die Kinder, Dick, 17 Jahre alt und Mary, 20 Jahre alt, die sich langsam von den Eltern lösen. Jeder Moment wird detailliert beobachtet und beschrieben. Hierdurch gelingt es dem Autor, den Leser in diese vergangene Zeit und in den Alltag der Figuren mitzunehmen. So hatte ich das Gefühl, diese zwei Wochen als stille Beobachterin unmittelbar an der Seite der Protagonisten zu verbringen.

Im Verlauf der Lektüre wurden mir die Figuren immer sympathischer, auch wenn ich, als Kind der heutigen Zeit, nicht mit ihnen tauschen wollte. Mr. Stevens gibt die Marschrichtung für die Ferien vor. Fast alles ist durchgeplant und im Voraus bedacht, sogar die freie Zeit, die jeder auch mal für sich verbringen soll. Der Tagesablauf im Großen und Ganzen: Frühstück, Strand mit Baden und Cricket spielen. Lunch, wieder Strand, Teatime, Abendessen.

Bei den erwachsenen Kindern sind leise Ablösungsprozesse zu verzeichnen. Sie registrieren, dass das Seaview in die Jahre gekommen ist. Die Wirtin wirkt alt und sonderbar. Das Mobiliar ist abgenutzt. Es gibt bessere Unterkünfte in Bognor. Und dennoch: Allesamt scheinen glücklich und wohlbehalten, ja lebensbejahend, innerhalb des Familienverbunds, in dem niemand und nichts abwertend beschrieben wird. Dies ist auch ein im besten Sinn britischer Roman. Die Figuren erscheinen zurückhaltend und diszipliniert, die Contenance wird gewahrt. Emotionen behält man für sich, aus Selbstschutz und um die anderen nicht zu verletzen.

Das hat mir gefallen, alldieweil es dem Autor gelingt, diese Eigentümlichkeit so sichtbar zu machen. Das fast schon pedantische Planen und Durchorganisieren der Ferien durch den Familienvater mutet wie der unmögliche und unverständliche Versuch an, das Glück durchzuorganisieren. Erhellung hat hier das gelungene Nachwort des Übersetzers Karl-Heinz Ott gebracht: Mr Stevens ist von einem tiefen Bewahrens- und Gelingensdrang erfüllt, so Ott. Sein Ziel scheint mir ist, die Familie vor der Außenwelt und vor deren Enttäuschungen zu bewahren. Was nicht wirklich gelingen kann, wie der Leser ahnt und die Lebenserfahrung lehrt.

Und hier war ich den Figuren wieder ganz nah. Suchen wir nicht alle, auch und gerade heute, nach Orientierung und Zuversicht ? Die vom Autor so nachvollziehbar beschriebenen Gedankenwelten seiner Figuren zeigen uns, wie Karl-Heinz Ott m. E. treffend in seinem Nachwort bemerkt, "wie in einem Vergrößerungsspiegel, was uns selbst ausmacht", und das bis zum heutigen Tag, gar nicht altmodisch !

Ein trotz aller britischer Zurückhaltung der Figuren warmherziger, stimmungsvoller und tiefgründiger Roman, der zudem in wunderbar poetischen Bildern erzählt wird. Die Stimmung wird spürbar: das Meer, der Wind, der Sand zwischen den Zehen und zuhause im Vorort die im Vollmond glänzenden Dachziegel des nahen Kristallpalastes, der Garten.

Ich habe die Lektüre sehr genossen und vergebe 5 Sterne und eine Leseempfehlung für alle, die auch mal ein Buch genießen wollen, in dem nicht viel passiert.