Rezension

Familie im geplanten Ausnahmezustand

Zwei Wochen am Meer -

Zwei Wochen am Meer
von R. C. Sherriff

Familienferien wie jedes Jahr. Familie Stevens reist in das englische Seebad Bognor. Sensible und liebevolle Beschreibung, wie eine Familie funktioniert. Atmosphärisch dicht, wunderbar erzählt. Liebhaber von Literatur, in der die Story zwischen den Zeilen und nur dort zu finden ist, werden hier glücklich. Wer nur Thriller liest, für den ist dieses Buch ein Reinfall.

Für die meisten sind sie bereits wieder vorbei, die zwei wohlverdienten Wochen am Meer oder in den Bergen oder auf Balkonien. Zwei Wochen am Meer von R.C. Sherriff ist ein Werk, welches das Feriengefühl aber nochmals raufbeschwören kann: die Stimmungen, hervorgerufen durch den Urlaubs-Ausnahmezustand, die in der Luft liegenden Strömungen, die ungewohnten Gerüche. 

Nun hat dieser Roman, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der englischen Küste spielt, so gar keinen Plot. Keiner aus der Familie Stevens, die wir auf ihrer vierzehntägigen Reise begleiten, macht eine nach aussen sichtbare Krise durch, es kommt zu keinen Zwisten, es gibt auch keine Gefahren, es sei denn, sich an der Sonne die zarte englische Haut krebsrot zu brennen. Doch selbst dies wird – welch glückliche Zeiten – noch nicht als Hautkrebsrisiko wahrgenommen. 

Wie wirkt nun aber ein Roman, der so ganz ohne Plot auskommt, auf die Leserin?  Man würde meinen einschläfernd. Die Gefahr ist nicht ganz unerheblich, dass einem die Augen zufallen. Das liegt aber nicht an aufkommender Langeweile, sondern eher daran, dass der Autor die Stimmungen eines Seebads derart atmosphärisch beschreibt, dass man zuweilen meint, selber ruhend und müde vom Schwimmen im Sand zu liegen.

Zur dieser eigenartigen Geschichte: 

Familie Stevens bereitet sich in einem Londoner Vorort akribisch auf den alljährlichen Urlaub in Bognor vor. Die Katze muss versorgt werden. Jemand muss Haus und Garten im Auge haben. Der Gepäckträger muss bestellt, Milchmann und Zeitung abbestellt werden. Es sind alltägliche Dinge und Gedanken, die der Leserschaft hier begegnen – und dennoch lernt man schon auf den ersten Seiten, wie die Familie funktioniert: Mr Stevens ist der Kontrollfreak der Familie, Mrs Stevens steht dienend im Hintergrund. Sie mag es nicht besonders, nach Bognor zu reisen. Nur weiss das keiner. Dick und Mary, die beiden fast erwachsenen Kinder der Stevens, werden wohl das letzte Mal mitfahren. Ob dieser Urlaub nochmals die Kindheit heraufbeschwören kann?

Die Reise nach Bognor erfolgt im Zug und sorgt für einige «Aufregungen»: Mr Stevens macht sich Sorgen, ob das Gepäck rechtzeitig am Gleis sein wird, seine Gattin ist beunruhigt wegen des Zugwechsels in Clapham Junction. Jeder hofft auf eine freies Zugabteil oder wenigstes anständige Mitreisende. In Bognor angekommen bezieht man im «Seaview» bei Mrs Huggett die üblichen Zimmer. Das Haus ist abgewohnt, die Wirtin auch nicht mehr was sie mal war. Doch auch hier: Familie Stevens bleibt dem Haus und den Gewohnheiten treu. Ausser kleinen geheim gehaltenen Alleingängen der einzelnen Familienmitglieder spult man das übliche Programm ab: Strandgang, schwimmen, einkaufen, Five-o-clock-Tee, Spaziergang. Man nimmt Rücksicht aufeinander. Alles was zu Diskussionen führen könnte, wird ausgeklammert. Beispielsweise Dick: Der Junge ist unzufrieden in seinem Job, den ihm sein Vater besorgt hat. Doch leider hat er nicht die «richtige» Schule besucht – seine Zukunftsaussichten sind damit eingeschränkt. Dick kämpft mit dieser ausweglosen Situation.

Im Stillen werden hier die inneren Kämpfe und Krämpfe ausgetragen, während gegen aussen alles eitel Sonnenschein und Rücksichtnahme ist. Wir Leser begleiten unsere vier Helden bei ihren Gedanken in Freud und Leid. Und irgendwie scheinen sie uns sehr, sehr verwandt.

Was mich am meisten erstaunt hat: Der 1931 erstmals erschienene Roman könnte grundsätzlich altmodisch wirken. Natürlich gehören die Lebensumstände, Rollenverteilungen und Reisegewohnheiten einer vergangenen Zeit an, dennoch könnte sich vieles auch heute so abspielen. Beispielsweise ist es erstaunlich, dass sich schon in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Figur Mr Stevens Gedanken macht über die Landgefrässigkeit reicher Städter, die mit ihren Prunkferienhäusern die Landschaft verändern.

Titel: Zwei Wochen am Meer, 346 Seiten, gebunden

Autor: R.C Sherriff, übersetzt und mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott

Verlag:  Unionsverlag, 2023

ISBN 978-3-293-00604-1, SFr. 36.–, 26.– €