Rezension

Erschreckend und berührend...

Die Unwerten - Volker Dützer

Die Unwerten
von Volker Dützer

Bewertet mit 5 Sternen

Ein Buch gegen das Vergessen...

Volker Dützer hat mit seinem Buch „Die Unwerten“ einen Roman über Deutschlands dunkelste Zeit mit seinen schrecklichsten Taten geschrieben: über Euthanasie im Nationalsozialismus.

Die Geschichte startet im Dezember 1939, seit 6 Jahren ist Hitler an der Macht, im September hat der 2. Weltkrieg begonnen...

Hannah, eine 14-jährige Halbjüdin, leidet unter ihrem Mathematiklehrer, Herrn Pilz, einem glühenden Nationalsozialisten (Rechenaufgabe: „Ein Irrenhaus kostet zwei Millionen Reichsmark. Wie viele deutsche Familien könnten von dem Geld eine Wohnung bekommen?“, S. 14, E-book). Aber Hannah leidet auch an epileptischen Anfällen und bekommt einen gerade im Mathe-Unterricht. Das muss Herr Pilz selbstverständlich sofort an die entsprechenden Stellen melden!

Quasi als „Gegenpart“ lernen wir Joachim Lubeck kennen, ein junger Psychiater., der sich von seinem Vater unterdrückt fühlt: „Sein Vater traute ihm nicht zu, sich allein durchzusetzen und eine Laufbahn als Psychiater aufzubauen.“ (S. 30) Lubeck war 1932 in die SA eingetreten. „Der affige Pomp begeisterte ihn wenig, er sah seine Mitgliedschaft lediglich als Mittel zum Zweck. Was ihn dagegen faszinierte, war die Macht, die mit den Privilegien der SS einherging.“ (S. 31). Durch Beziehungen seines Vaters erhält Lubeck letztendlich eine Stelle bei der Aktion T4. „Lubecks Aufgabe würde es sein, Patienten zu begutachten und Meldebogen auszufüllen: Mit anderen Worten: Er war fortan Herr über Leben und Tod.“ (S. 33)

In den kommenden Jahren kreuzen sich Hannahs und Lubecks Wege immer wieder, als Leserin stockt einem in solchen Situationen meist der Atem, wissen wir doch, dass Lubeck „am längeren Hebel“ sitzt – und außerdem hat sich Hannah Lubeck  auch aus anderen Gründen zum „persönlichen Feind“ gemacht.

Es ist wahrhaftig kein „leichtes“ Buch, an einigen Stellen konnte ich kaum weiterlesen, so entsetzten mich die Grausamkeiten der Nationalsozialisten (ja, man weiß es alles, aber es ist schon etwas anderes, dies in einem Roman zu lesen!): „Vor zwei Tagen war der zehntausendste Patient kremiert worden, zur Feier des Tages hatte die Anstaltsleitung jedem Mitarbeiter eine Flasche Bier spendiert.“ (S. 155)

Der Autor lässt uns an der weiteren Entwicklung von Hannah und Lubeck teilhaben (natürlich gibt es noch viele andere Charaktere, auf die ich aber hier nicht eingehe!): Hannah wird stärker und erwachsener, sie verliert ihre Angst (dieser Moment wird sehr berührend beschrieben). Lubeck wird immer skrupelloser: zuerst lässt er nur andere töten zum Schluss tötet er selbst. Anders als Dr. Richard Hellmer im Buch „Im Lautlosen“ von Melanie Metzenthin, der falsche Gutachten erstellt, um seine Patienten vor der Euthanasie zu bewahren, geht Lubeck seinen Weg durch die Hierarchie, er hat auch an sich selbst kaum oder nie Zweifel,  auch nicht an seinen Schritten, Handlungen und Entscheidungen.

Der fesselnde und lebhafte Schreibstil hat mich vom Beginn in die Handlung einbezogen, ich habe mit Hannah, gelitten, gezittert und gehofft (und ja, auch geweint!)

In einem ausführlichen Nachwort geht der Autor detailliert auf seine Recherchen ein, ich habe festgestellt, dass ihm viele reale Personen als Vorlage für seine fiktiven Protagonisten dienten. Volker Dützer stellt die Frage, ob dieses Thema in einem (Unterhaltungs-) Roman behandelt werden sollte, meine Antwort: ja, unbedingt! Solche Romane müssen geschrieben werden, denn sie werden bestimmt eher als Sachbücher zu diesem Thema gelesen!

Dies ist ein Buch gegen das Vergessen und für das Statement, dass keine Regierung, kein Staat, kein Regime, keine Behörde das Recht bekommen sollte, über den „Wert“ eines Menschen zu urteilen und zu entscheiden! Eigentlich sollte dieses Buch eine Schulbuch-Empfehlung bekommen...

Für mich ist dieses Buch bestimmt eines meiner Lesehighlights 2020, kein „einfaches“ Buch, dafür aber umso wichtiger!