Rezension

Evelien hat Magersucht...und noch viel viel mehr...

So hungry - Gerda van Erkel

So hungry
von Gerda van Erkel

Bewertet mit 2.5 Sternen

Die 17jährige Evelien (kurz Evi) war vier Jahre zuvor dabei, als ihre Mutter mit dem Auto tödlich verunglückte. Seither ist nichts mehr, wie es war. Ihr Vater hat in Rita eine neue Frau gefunden und diese auch recht bald geheiratet. Rita hat einen Sohn namens Dominik mit in die Ehe gebracht, der in etwa in Evis Alter ist. Die beiden Jugendlichen verstehen sich überhaupt nicht und Rita empfindet Evi als Konkurrenz beim Buhlen um die Liebe des Vaters. Es scheint, dass alle Schuld auf Evi abgeladen wird, bis diese daran zu zerbrechen droht. 

Evi geht auf eine Hotelfachschule. Nachmittags geht sie ebenso wie Dominik in eine Art betreutes Jugendzentrum namens Plansjee, das von der Jugendfürsorge für Kinder aus zerrütteten Familien eingerichtet wurde. Aber ein Zuhause ersetzt Plansjee nicht. Evi fühlt sich nirgendwo mehr zu Hause. Hinzu kommt, dass sie sich in Plansjee in den wenig älteren Jasper verliebt hat, der jedoch in Evi nur eine Schwester sieht und Margreet liebt, die von ihrem Vater tagtäglich missbraucht wird. Als Margreet schließlich ins Ausland abhaut und Jasper ihr folgt, ist Evelien noch einsamer. Und im Grunde ist ihr alles um sie herum ziemlich egal. Bis sie eines Tages mit dem Fahrrad eine Böschung hinunter stürzt und im Fluss landet, wo sie bewusstlos im Wasser treibt. Am Ende wird sie gerettet. Aber fortan geht es nur noch steiler bergab.

Eveliens Geschichte entspricht nicht dem typischen Krankheitsverlauf einer Anorexie. Auch wenn sie sich ritzt, kotzt, Drogen nimmt und sich auf 38 kg runterhungert, so ist die Intention bei ihr nicht das Streben nach Perfektion und Dünnsein. Das hat sie aufgegeben. Damit hat vielleicht einmal alles begonnen, aber spätestens nachdem Jasper Margreet hinterher gereist ist, hat sie begriffen, dass ihre Liebe zu ihm niemals im gleichen Maß erwidert werden wird, egal wie dünn sie ist. Dieses Thema spielt in dem Buch auch gar nicht die entscheidende Rolle, auch wenn es immer mal wieder aufgegriffen wird. Viel gravierender ist im Grunde der Mangel an Zuwendung, Trost, Verständnis und Geborgenheit, dem Evelien ständig ausgesetzt ist. Jede einzelne Situation, die sie aus ihrem Leben schildert, wimmelt nur so davon. Als Leser weiß man gar nicht, wie man das Ganze einordnen soll. Die Magersucht scheint das geringste Übel und nur eines von sehr vielen Symptomen zu sein, mit denen Evelien auf ihre Umwelt reagiert. Und auch wenn das Ende voller Hoffnung ist und Evelien einen gangbaren Weg vor sich sieht, so bleibe ich als Leser skeptisch und mit einem gewissen Unbehagen zurück. 

Das Buch zeigt eindrucksvoll, wie sehr der Tod eines Elternteils eine Familie und das, was sie ausmacht - nämlich Rückhalt, Geborgenheit und ein Zuhause-Gefühl - mehr oder weniger unwiederbringlich zerstören kann. Es werden sehr viele sehr unterschiedliche psychische und soziale Probleme angesprochen, dabei reicht oft eines alleine von Ihnen schon aus, um ein gestörtes Verhalten auszulösen, und das muss sich gar nicht mal nur auf das Essverhalten beschränken.

Was mir bei "So hungry" fehlt, sind Lösungsansätze, die allen(!) mittelbar und unmittelbar Betroffenen helfen, ein halbwegs geordnetes Leben zu leben bzw. dahin zurückzufinden. Resignation und Kompromisse bis zum Verbiegen sind dauerhaft meines Erachtens nicht hilfreich. Und eine derartige seelische Zerstörung wie bei Evi bleibt nicht ohne Folgen, denen man gerecht werden muss. Da müssen alle mitarbeiten. Jeder muss seinen Teil beitragen und auch an sich arbeiten. Dies wird im Buch angedeutet, aber nicht konsequent zu Ende gedacht.

Das Buch ist für Interessierte im sozialpädagogischen Bereich sicher nicht schlecht, aber für von Essstörungen Betroffene ist es denkbar ungeeignet, weil es das Thema nur streift und den Leser nach unten zieht.